Oksa Pollock. Die Unverhoffte
immer wieder betrachtet und untersucht. So fand ich heraus, dass er aus Majestikholz gefertigt ist, einer edlen Holzart, und in der Spitze einen magnetischen Stein aus dem höchsten Gebirge Edefias enthält. Ich habe ihn in alle Himmelsrichtungen gedreht und gewendet, um herauszufinden, wie er funktioniert. Und, glaub mir, das war eine ziemliche Geduldsprobe! Einmal hätte ich ihn aus lauter Verzweiflung und Ungeduld beinahe zerbrochen. Ich habe Tausende von Zauberformeln auf gut Glück ausprobiert, die alle kläglich scheiterten. Bis ich eines Tages begriff: Es genügt, sich auf eine harmonische Art und Weise an ihn zu wenden – mit Poesie oder Gesang –, und der Stab tritt in Aktion.«
»Ein lyrischer Zauberstab sozusagen«, flüsterte Oksa mit geröteten Wangen.
»Genau. So habe ich schließlich entdeckt, dass ich mich verwandeln kann. Dafür muss ich mich in einem Spiegel betrachten, um den Zauber auf mich zu lenken.«
»Hast du dich so in einen Hasen verwandelt?«, fragte Oksa. Ihr Gesicht war inzwischen ganz heiß vor Erregung. »Das ist genial! Jetzt verstehe ich auch, warum Papa sagte, du wärst der Mächtigste von uns allen.«
»Ach, weißt du, das sind Fähigkeiten, die ich kaum je anwende. Aber ich muss zugeben, dass sie mir in einigen extremen Situationen von großem Nutzen waren.«
»Wann denn zum Beispiel?«
»Etwa bei unserer Flucht aus der Sowjetunion, als uns der KGB auf den Fersen war. Die Verwandlung hat mir damals das Leben gerettet. Ich weiß noch genau, wie ein Soldat Alarm schlagen wollte, und ausgerechnet in diesem Moment streikte sein Telefon. Das Kabel war nämlich durchtrennt worden, von einem Nagetier mit langen Schneidezähnen, das sich auf unerklärliche Weise unter seinen Schreibtisch geschlichen hatte. So konnten wir unbehelligt das Flugzeug besteigen, mit dem Leomido und sein Orchester samt drei blinden Passagieren in den Westen flog. Einer der drei war dein Vater, versteckt in einem Cellokasten.«
»Ja, er hat mir erzählt, wie knapp ihr entkommen seid!«, rief Oksa. »Aber diese ganzen Einzelheiten kannte ich nicht. Also, jedenfalls hast du ein ganz schön aufregendes Erbgut, Abakum! Ich hoffe bloß, du musst dir nie Blut abnehmen lassen, denn du wärst garantiert ein wissenschaftliches Wunder.«
Auf dem Gesicht des alten Mannes breitete sich ein Lächeln aus und seine Augen blitzten schelmisch. »Du denkst aber auch an alles, Oksa. Nein, zum Glück hatte ich bisher nie mit irgendwelchen Ärzten zu tun, und ich hoffe, dass mir das auch bis zum Ende meiner Tage erspart bleibt. Ich wage gar nicht daran zu denken, was das für Folgen hätte.«
»Nein, wirklich«, stimmte Oksa zu. »Und das da? Was ist das?«
Dabei zeigte sie mit dem Finger auf ein dickes, eindrucksvolles Buch, das Abakum zusammen mit dem Stab auf den Tisch gelegt hatte: Es war in abgegriffenes hellrosa Leder gebunden und mit silbernen Metallfäden verziert.
»Aah«, seufzte der Feenmann, »das ist das Buch der Schatten. Als ich die Grotte der Singenden Quelle verließ, hielt mir einer der beiden Corpusleox ein Stück Stoff hin. Ich ergriff es. Im nächsten Augenblick verdunkelte ein Schatten die Stelle, wo ich stand, und mich fröstelte. Ich war vollkommen überrascht, verstand nicht, was das zu bedeuten habe. Dann entdeckte ich vor mir auf dem Boden ein Buch. Der Corpusleox, der mir das Tuch gereicht hatte – einen Schal meiner Mutter –, erklärte mir, es handle sich um das Buch der Schatten. Jede Fee besitzt ein eigenes und sammelt darin Rezepturen, Zaubersprüche und Formeln. Das Buch, das ich in den Händen hielt und das du jetzt gerade betrachtest, gehörte meiner Mutter. Da mir das Geheimnis meiner Geburt enthüllt worden war, durfte ich es nun bekommen. So, meine liebe Oksa, jetzt weißt du alles.«
Oksa schlug mit angehaltenem Atem das Buch auf. Auf dickem, vergilbtem Papier standen in farbiger Tinte obskure Formeln, geheimnisvolle Zeichnungen und sibyllinische Verse. Doch mehr noch als das Buch selbst war es seine Herkunft, die Oksa faszinierte. Ein Gegenstand, der einer Fee gehört hatte – so etwas begegnete einem schließlich nicht alle Tage! Und während sie in dem sagenhaften Buch blätterte, spürte sie eine wunderbare, fiebrige Erregung.
Ein Höllenalarm
W
ie wär’s, wenn wir uns jetzt mal um die praktischen Dinge kümmern?«, fragte Abakum zehn Minuten später. »Ich habe ein ganz besonderes Zimmer für dich hergerichtet: ein Waldzimmer. Möchtest du es dir ansehen?«
»Und
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