Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Mahagoni aus der Innentasche seiner Jacke gezogen. Er machte es auf und nahm einen Gegenstand heraus, der Oksa wohlbekannt war.
»Das ist sein Zauberstab«, erklärte sie Marie stolz, »den er von seiner Mutter geerbt hat, der Alterslosen Fee, die aus Liebe starb.«
»Ah, verstehe«, antwortete Marie mit einem Lächeln, um ihr Staunen zu verbergen. »Das habe ich mir fast gedacht. Feen ohne Zauberstab, das geht doch nicht …«
Der Feenmann, wie Oksa ihn inzwischen nannte, steckte den Zauberstab ins Innere der Nascentia und fuhr damit vorsichtig an der Haut entlang. Nach und nach wurde die Kugel wieder strahlend hell und weiß wie am Anfang. Ein paar Minuten später zog Abakum den Zauberstab wieder heraus. Die Nascentia fiel sogleich in sich zusammen und sah nur noch aus wie ein hauchdünner Stoff. Dragomira legte ihn sorgfältig zusammen.
Abakum trat zu Oksa und ihrer Mutter und zeigte ihnen den Stab: An seinem Ende hatte sich ein dunkles, fast schwarzes Knäuel aus feinen Fusseln gebildet.
»Ist das Schmutz?«, fragte Oksa ungläubig.
Abakum nickte lächelnd. »Ja, das kann man so sagen. Um es noch genauer auszudrücken: Es sind deine schwarzen Gedanken.«
»Was?!«, riefen Oksa und ihre Mutter im Chor.
»Die Nascentia befreit den Geist von den Qualen, die ihn heimsuchen, und entreißt ihn den Abgründen, die ihn in die Tiefe ziehen. Manche Qualen braucht man, um voranzukommen, aber andere verschmutzen nur den Geist. Was du am Ende dieses Stabs siehst, ist nichts anderes als all das Düstere, das dich von uns getrennt hatte und dich vergessen ließ, dass es immer auch Licht und Hoffnung gibt.«
Oksa beugte sich vor und untersuchte das Knäuel aus wirren fusseligen Fädchen.
»Soll das heißen, all das ist aus meinem Kopf gekommen?«
»Aus deinem Kopf, aus deinem Körper, aus deinem Herzen, ja«, antwortete Abakum und richtete seine grauen Augen auf sie.
»Ist das … lebendig?«
»Aber natürlich! Genauso wie du. Gedanken sind nichts Lebloses, sie sind so lebendig wie alles an uns.«
»Was wirst du damit machen?«
»Also das, meine sehr Junge Huldvolle, möchte ich mit deiner Erlaubnis lieber für mich behalten«, gab der Feenmann mit einem geheimnisvollen Lächeln zurück.
Mit diesen Worten hielt er den Stab über eine kleine lackierte Schachtel und schüttelte das Knäuel aus schwarzen Gedanken hinein. Darüber goss er den Inhalt einer Kapsel, die er aus seiner Granuk-Schatulle gezogen hatte, verschloss das Gefäß sorgfältig, steckte es zusammen mit dem Zauberstab in seine Jacke zurück und überließ Oksa ihrer Verblüffung.
Die Gefangene der Krypta
O
ksa musste sich den ganzen Vormittag gedulden, bis sie Gus endlich von ihrer einmaligen Erfahrung in der Nascentia berichten konnte. Nach dem Mittagessen beschlossen die beiden, sich von ihren Freunden abzuseilen und sich in die Skulpturenhöhle zurückzuziehen. Leider war jedoch mittlerweile Monsieur Bontempi zu Ohren gekommen, dass der Raum unerlaubt von Schülern benutzt wurde, und so hatte er ihn abschließen lassen. Aber die beiden ließen sich nicht entmutigen und suchten nach einem neuen Schlupfwinkel. Dabei stießen sie recht bald auf einen Ort, der ihnen bisher bei ihren Erkundungstouren nicht aufgefallen war: die winzige alte Schulkapelle, die sich in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls befand.
»Oksa, wir werden da jetzt nicht reingehen!«, sagte Gus, als sie auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür standen, die mit einem einfachen Holzbrett zugenagelt war.
»Jetzt komm schon. Da drin haben wir unsere Ruhe.«
»Vielleicht finden wir noch irgendwas anderes«, murmelte Gus, dem die Vorstellung, die düstere Kapelle zu betreten, überhaupt nicht behagte. »Wenn du unbedingt in eine Kapelle willst, dann können wir ja in die neue gehen.«
»Soll das ein Witz sein? Da probt gerade der Schulchor! Spitz doch mal die Ohren … Man kann sie bis hierher singen hören.« Oksa zog leicht an der Holzplanke. Die rostigen Nägel gaben sofort nach und Oksa hielt das morsche Brett in der Hand. »Da, schau! Wenn das kein Zeichen ist!«
Der unverbesserliche Optimismus seiner Freundin überzeugte Gus keineswegs. »Von wegen, Zeichen! Das ist höchstens ein Zeichen für bevorstehenden Ärger!«
Mit den Fingerspitzen schob Oksa die Holztür auf und streckte den Kopf ins Innere.
»Alles bestens, alter Schisshase. Es ist super hier!«
»Ich finde es unheimlich«, gab Gus zurück.
Sie gingen hinein, vergewisserten sich mit einem letzten
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