Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Oksa im Halbdunkel der Krypta die undeutlichen Umrisse einer menschlichen Gestalt erkannt hatten, waren sie beinahe in Ohnmacht gefallen – oder sogar, was Gus anging, vor Angst fast gestorben.
»Madame Crèvecœur, sind Sie das?«, hatte Oksa heiser geflüstert, das Granuk-Spuck immer noch in der Hand.
»Crèvecœur, was für ein hübscher Name! Gebrochenes Herz … ein hübscher, hübscher Name …«, hatte eine sanfte, melodische Stimme aus der Tiefe der Krypta geantwortet, woraufhin Oksa und Gus Hals über Kopf kehrtgemacht und das Weite gesucht hatten – allerdings nicht, ohne zuvor die Tür zur Krypta weit aufzustoßen.
Einige Stunden später fand man dann Madame Crèvecœur auf dem Rand des Springbrunnens im Schulhof sitzend. Sie hatte sich an einem schmutzigen Stofffetzen einen Topf umgehängt und drosch wie eine Wahnsinnige auf ihr behelfsmäßiges Instrument ein, während sie in voller Lautstärke ein Lied nach dem anderen schmetterte. Mit ihren wild zerzausten Haaren und dem verschmutzten Gesicht bot sie einen ergreifenden, um nicht zu sagen schockierenden Anblick. Ihr blaues Kostüm war zerrissen, ihre nackten Beine von blauen Flecken übersät und blutverkrustet.
Zur großen Erheiterung der Schüler, die es mit Beifallsrufen quittierten, begann sie dann auch noch, auf zwei Fingern zu pfeifen, stieg auf den Brunnenrand und sprang mit gestreckten Beinen in das eiskalte, knietiefe Wasser. Inzwischen war Monsieur Bontempi herbeigeeilt, gefolgt von mehreren Lehrern. Er packte die Unglückliche und hob sie aus dem Wasser.
»Bénédicte, beruhige dich! Es ist ja gut.«
Doch Bénédicte Crèvecœur schien das anders zu sehen. Sie nahm ihre Topftrommel und versuchte, ihren Retter damit k. o. zu schlagen, und wäre diesem nicht Monsieur Bento zu Hilfe gekommen, so hätte er sicherlich im nächsten Augenblick Sternchen gesehen. Unter den empörten Schreien der durchnässten Sängerin und dem Applaus der erheiterten Schüler verschwand das kleine Grüppchen vom Hof.
Ein paar Minuten später hallte das Martinshorn eines Krankenwagens im Schulhof wider, jagte ein Frösteln durch alle Klassenzimmer und brachte auch den letzten Lacher zum Verstummen.
»Ihr sagt, Madame Crèvecœur ist wieder aufgetaucht?! Seid ihr sicher?«
»Absolut sicher!«
Pierre Bellanger, der Oksa und Gus an diesem Nachmittag vom Schultor abholte, hatte seinen Ohren nicht getraut, als die Kinder ihm die unglaubliche Neuigkeit erzählten, und bei den Pollocks wurde die Nachricht mit demselben ungläubigen Staunen aufgenommen.
»Das ist allerdings eine Überraschung«, sagte die Baba Pollock und richtete den Blick nachdenklich in die Ferne.
»Wir haben den Schreck unseres Lebens bekommen«, erzählte Oksa. »Du hättest sehen sollen, in welchem Tempo wir aus dieser Kapelle gerannt sind!«
»Diese Frau hat euch viel zu verdanken«, sagte Dragomira. »Wer weiß, was aus ihr geworden wäre, wenn ihr sie nicht gefunden hättet! Aber ich wundere mich wirklich. Ich war fest davon überzeugt, dass Orthon sie umgebracht hat.«
»Das zum Glück nicht«, sagte Oksa. »Nur ist sie offenbar nicht mehr ganz richtig im Kopf. Was glaubst du, wie er das gemacht hat?«
»Es klingt nach einem Verwirrsalis-Granuk, nur noch schlimmer.«
Auf Gus’ fragenden Blick hin erklärte Oksa in lehrerhaftem Ton: »Das Verwirrsalis-Granuk verwirrt das Gehirn für kurze Zeit, höchstens einige Stunden. Wer so eins abbekommt, kann nicht mehr klar denken und redet bloß noch irgendeinen Unsinn.«
»Wobei es normalerweise relativ harmlos ist«, fügte Dragomira hinzu. »Aber eurer Beschreibung nach scheint es sich hier um etwas sehr viel Aggressiveres zu handeln.«
»Könnte McGraw nicht ein Memo-Trümmer-Granuk verwendet haben?«, fragte Oksa.
»Es ist gut möglich, dass er die beiden vermischt hat, und wahrscheinlich hat er auch an der Dosis nicht gespart. Er kann sich nicht erlauben, dass Madame Crèvecœur redet, sie hat zu viel gesehen. Ich befürchte fast, dass ihr Zustand womöglich irreversibel ist. Die arme Frau. Wo wurde sie denn hingebracht? Wisst ihr es?«
»Sie wurde mit dem Krankenwagen abgeholt und heute Nachmittag habe ich ein paar Lehrer über sie reden hören. Sie ist im Krankenhaus, die Polizei will sie befragen, aber sie ist offenbar so verwirrt, dass das schwierig sein dürfte«, wusste Oksa zu berichten.
»Da könntest du recht haben«, murmelte Pavel und drückte die Hand seiner Frau. »Wir bringen den Leuten, die mit uns zu tun
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