Oksa Pollock. Die Unverhoffte
sind wir so weit.«
Die Nascentia schwebte inzwischen ein Stück über dem Boden. Der Dampf in ihrem Inneren baute sich allmählich ab. Man konnte sehen, wie Kondenswassertröpfchen langsam an der durchsichtigen Innenwand herabglitten. Etwas später legte Dragomira die Hände flach auf die Oberfläche der Kugel und strich darüber.
»Sie sucht die Öffnung«, erklärte Pavel. »Ah, da hat sie sie gefunden.« Unendlich vorsichtig hielt Dragomira mit beiden Händen einen etwa fünfzig Zentimeter langen Schlitz auf. »Magst du, Oksa? Die Nascentia ist bereit, dich aufzunehmen.«
Oksa stand auf und ging zu der seltsamen Kugel. Sie schob zuerst ein Bein in den Einstieg und dann den ganzen Körper. Anders als erwartet, sank die Nascentia nicht etwa unter Oksas Gewicht zu Boden, sondern schwebte weiter. Dragomira zog die Hände aus der Öffnung, die sich sofort schloss.
Währenddessen kuschelte sich Oksa ins Innere der Kugel: Instinktiv rollte sie sich zusammen, schmiegte sich an die weiche Haut und ließ sich von der feuchten Wärme umhüllen. Im nächsten Augenblick überzog sich die Nascentia mit feinen bläulichen Adern, die pulsierten, als ob etwas Lebendiges in ihnen floss und sich verteilte. Und wiederum einige Augenblicke später liefen feine Wellen in rhythmischen Intervallen über ihre seidige Oberfläche.
»Wie ein schlagendes Herz«, murmelte Marie und strich ihrem Mann über den Arm.
Oksa wurde von den regelmäßigen schaukelnden Bewegungen im Nu schläfrig. Eine unwiderstehliche Müdigkeit überkam sie, und sie hatte das seltsame Gefühl, dass die düsteren Gedanken, die ihren Kopf bevölkerten und ihr Herz in bodenlose Abgründe zu stürzen drohten, aus ihr herausschlüpften und sich in der feuchten Wärme der Nascentia verflüchtigten.
Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie noch immer in ihrer zusammengeringelten Position: die Beine fast bis zum Kinn hochgezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Eine Stunde? Ein Tag? Eine Woche? Alles wäre möglich gewesen. Sicher war nur eines: Ihr Inneres fühlte sich so vollkommen wohlig und leicht an wie seit Langem nicht mehr. Als ob der Aufenthalt in dieser beschützenden, kuscheligen Kugel sie von einer qualvollen Last befreit hätte. Oksa hörte die Stimmen ihrer Eltern und ihrer Großmutter, zu denen sich auch noch die von Abakum gesellt hatte. Sie klangen seltsam fern, dabei gleichzeitig verstärkt und verzerrt, wie durch Meeresrauschen hindurch.
Plötzlich entstand eine Öffnung in der jetzt grauen und beschlagenen Haut der Nascentia und Pavels Gesicht tauchte auf.
»Mein Schatz, wie geht es dir?«
»Gut, Papa. Sehr gut sogar. Bloß ein bisschen eng ist es. Bin ich schon lange hier drin?«
»Etwas mehr als vier Stunden.«
Ihr Vater schenkte ihr ein strahlendes Lächeln und half ihr heraus, indem er, wie es vorhin Dragomira getan hatte, den Schlitz aufhielt. Als Oksa wieder auf den Beinen stand, reckte und streckte sie sich erst einmal und gähnte ausgiebig, während ihre Mutter sie in angespannter Erwartung ansah.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Marie mit einer Spur von Nervosität in der Stimme.
»Oh Mama!«, rief Oksa und warf sich in die Arme ihrer Mutter. »Einfach toll! Ich fühle mich wie neugeboren!«
»Ich hoffe aber doch, du bist immer noch die alte Oksa, die ich so lieb habe«, gab ihre Mutter zurück.
»Oh, ich glaube, was das angeht, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen«, versicherte Dragomira lächelnd.
In diesem Augenblick kam die Plempline mit dem Accessoire ins Wohnzimmer, von dem sie und ihr Gefährte – zuvorkommend, wie sie nun einmal waren – sich nur höchst selten trennten: einem Tablett, diesmal beladen mit einer dampfenden Teekanne und leckerem Gebäck.
»Der Aufenthalt in der Nascentia hat den Beitrag einer Wohltat gebracht, Junge Huldvolle. Der Eindruck der Entspannung ist die Lektüre in Eurem Gesicht und ein Trost in meinem Herzen.«
»Das kann man wohl sagen, Plempline, ich fühle mich viel, viel besser. Diese Nascentia hat ja die reinsten Wunderkräfte! Verglichen mit so einem Ding können die Seelenklempner alle einpacken.«
»Du hast recht, Dragomira«, stellte Marie erheitert fest, »es ist immer noch die alte Oksa.«
»Seht mal her, ihr beide«, unterbrach sie die Baba Pollock und zeigte zur Nascentia.
Abakum stand vor der Kugel, die immer noch in der Mitte des Zimmers über dem Boden schwebte, und hatte ein kleines Etui aus
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