Oksa Pollock. Die Unverhoffte
die den britischen Sicherheitsbehörden vor einiger Zeit solches Kopfzerbrechen bereitet haben.«
»Ach, weißt du, Gus, manchmal ist die Wahrheit verblüffender als die Fiktion«, merkte Dragomira geheimnisvoll an.
Nur Marie und Pavel sagten nichts. Ihnen standen die Unruhe und Angst, die der Polizeibesuch ausgelöst hatte, noch immer ins Gesicht geschrieben.
»Und Madame Crèvecœur?«, fragte Pavel seine Mutter. »Ist das auch eine Dissidentin?«
»Wer weiß?«, entgegnete Dragomira schmunzelnd.
Das Geheimnis der Langlebigkeit
M
adame Crèvecœur hatte natürlich keinerlei Verbindungen zu irgendwelchen Dissidentengruppen oder russischen Geheimagenten. Und vor allem war sie, entgegen den ersten Befürchtungen, nicht tot! Diese überraschende Nachricht, die Dragomira zunächst irritiert hatte, verriet nun doch eine gewisse Logik. Das fand jedenfalls Oksa, als sich die Rette-sich-wer-kann wieder einmal vollzählig im Haus am Bigtoe Square versammelt hatten.
»Es ist doch ganz klar! Wenn McGraw Madame Crèvecœur umgebracht hätte, dann hätte er noch mehr Aufmerksamkeit auf uns gelenkt, und damit auch auf sich selbst. Was Peter Carter und Lucas Williams angeht, klingt die Theorie, die Baba den Polizisten aufgetischt hat, glaubwürdig. Aber wenn man da auch noch Madame Crèvecœur mit unterbringen wollte, wäre es wirklich an den Haaren herbeigezogen.«
»Du hast recht, Oksa«, stimmte Abakum zu. »McGraw muss uns vor den Von-Draußen schützen, um sich selbst zu schützen. Und umgekehrt! Unsere Schicksale sind untrennbar miteinander verknüpft.«
»Weiß man denn Genaueres über diese arme Madame Crèvecœur?«, fragte Naftali, der große Schwede.
Oksa und Gus hatten in der Schule die Ohren weit aufgesperrt und dabei inzwischen ein paar interessante Informationen über den Zustand der Lehrerin erfahren. Was sie so alles herausbekommen hatten, erzählten sie nun im Kreis der Rette-sich-wer-kann.
»Anscheinend geht die Polizei von einem Akt des Vandalismus aus, der ein unglückliches Ende genommen hat: Madame Crèvecœur war demnach zum falschen Zeitpunkt aufgetaucht und angegriffen worden. Das glauben jedenfalls die Lehrer und die Polizei«, wusste Oksa zu berichten. »Außerdem habe ich gehört, dass sie zur Erholung in eine Klinik eingeliefert wurde, das hat Monsieur Bontempi gestern Monsieur Bento erzählt. Er besucht sie jeden Tag und sagte, es sei ganz furchtbar, mit ansehen zu müssen, wie verwirrt sie ist. Im einen Augenblick hält sie ihn für einen chinesischen Mandarin und ein paar Minuten später für einen ägyptischen Pharao.«
»Da kommt die Geschichtslehrerin durch!«, warf Pavel amüsiert ein, biss sich aber sofort auf die Lippe. »Nein, entschuldigt bitte, ich werde so etwas nie wieder sagen.«
»Papa!«, rief Oksa entrüstet. Allerdings schwang auch eine Spur von Erheiterung mit. »Du bist unmöglich!«
»Und ich musste neulich für Monsieur Lemaire etwas holen und habe dabei ein Gespräch zwischen McGraw und Monsieur Bontempi belauscht«, berichtete Gus. »Es war unerträglich! Dieser Heuchler von McGraw sagte doch glatt, wie schrecklich leid es ihm täte, was Bénédicte zugestoßen sei – er nannte sie tatsächlich beim Vornamen, der Mistkerl! – und dass es ein richtiger Schock für ihn gewesen sei, sie in diesem Zustand beim Springbrunnen zu sehen.«
»Und im Unterricht? Wie lief es da mit ihm diese Woche?«, wollte Abakum wissen.
Oksa und Gus schauten sich kurz an und antworteten dann im Chor: »Bestens!«
»Bestens?«, fragte Marie verwundert.
»Ja, weil er uns nämlich komplett ignoriert«, erklärte Oksa. »Und für uns ist das wie im Paradies. Wir könnten es uns nicht besser wünschen. Keine Attacken, keine Anschuldigungen – ich glaube, wir hätten auf unseren Tischen tanzen können und er hätte nichts gesagt.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Gus grinsend. »Da habe ich allerdings doch meine Zweifel. Wahrscheinlich hast du die feindseligen Blicke nicht gesehen, die er dir heimlich zuwirft. Kein Wunder, du hast ihm auch übel zugesetzt. Wenn man sein zerkratztes Gesicht sieht!«
»Er hat mir auch übel zugesetzt«, erwiderte Oksa und ihre Miene verfinsterte sich. »Er hat uns allen übel zugesetzt.«
»Und Mortimer? Und Zoé? Seid ihr ihnen begegnet?«, fragte Dragomira weiter.
»Zoé ist mir nachgelaufen«, erzählte Gus. »Aber ich habe ihr gesagt, dass ich nicht mehr mit ihr rede und dass sie mich gar nicht mehr anzusprechen braucht.«
»Mit mir wollte sie
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