Oksa Pollock. Die Unverhoffte
sagte Dragomira endlich. »Ich hätte nie gedacht, eines Tages einmal so etwas zu sagen, aber wir denken an ein Gerücht, das drei oder vier Jahre vor dem Großen Chaos in Edefia kursierte. Manche behaupteten damals, die Intemporenta sei entdeckt worden.«
»Die was?«, fragte Oksa.
»Die Intemporenta«, wiederholte Dragomira. »Die Perle der Langlebigkeit, wenn dir das lieber ist.«
»Äh … ich weiß nicht, ob mir das lieber ist«, erwiderte Oksa stirnrunzelnd. »Was ist das?«
»Bisher war es nur eine Legende. Man erzählte sich, dass eine Fee eine Muschel voller Perlen besitze, die den Alterungsprozess verlangsamen. Aber ich glaube, Abakum weiß über dieses Thema mehr als wir alle«, sagte Dragomira und richtete den Blick auf ihren Beschützer.
»Diese Geschichte bereitet mir schon seit geraumer Zeit Kopfzerbrechen. Aber ich denke, heute habe ich das letzte Puzzleteil gefunden und kann den Schleier über dieser Angelegenheit lüften, die uns seit über fünfzig Jahren ein Rätsel aufgibt.« Abakum strich sich über den kurzen weißen Bart. »Es stimmt, dass ich euch ein paar Kenntnisse voraushabe, die mir erlauben, zu einer mehr als plausiblen Schlussfolgerung zu kommen.«
Abakum hielt inne, so sprachlos war er selbst angesichts dessen, was er sich zu sagen anschickte. In seinen leuchtenden Augen lag eine außergewöhnliche Intensität.
»Abakum«, bettelte Oksa, »bitte erzähl es uns! Wir platzen vor Neugier!«
»In dem Buch der Schatten, das ich von meiner Mutter, der Fee, geerbt habe, steht, dass das Wasser der Singenden Quelle den Alterslosen Feen ihre Frische schenkt. Diese Frische ist natürlich ein Synonym für ewige Jugend. Ganz konkret bedeutet dies eine Verlangsamung des Alterungsprozesses. Die Feen können sage und schreibe fünfhundert Jahre alt werden.«
»Wow!«, rief Oksa. »Noch älter als die Plemplems.«
»Oksa, jetzt sei doch mal still!«, schimpfte Gus und stieß sie mit dem Ellbogen an.
»Ja, noch älter als die Plemplems«, fuhr Abakum fort. »Eines Tages kam Bjorn, ein kleiner Junge, den ich gut kannte, zu mir. Er wollte mir ein schreckliches Erlebnis anvertrauen, das ihn seit einiger Zeit beschäftigte. Er hatte im Wald am Ufer eines Baches einen alten Mann gesehen, Gonzal, einen sehr sanften und von allen geschätzten Menschen. Gonzal saß an dem Bach und weinte, weil soeben sein fünftes Enkelkind auf die Welt gekommen war. Seine Tränen waren einerseits Ausdruck der Freude, andererseits aber auch der Traurigkeit, denn dieses fünfte Enkelkind war ein Mädchen, seine erste Enkelin, und er hätte so gern noch länger gelebt, um sie aufwachsen zu sehen. Dazu müsst ihr wissen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits hundertfünfzig Jahre alt war und sich sein Leben dem Ende zuneigte. Der kleine Bjorn erzählte, dass eine Frau, die leuchtete wie ein Glühwürmchen – zweifelsohne eine Fee –, erschienen sei und eine Weile mit dem alten Gonzal gesprochen habe. Dann habe sie ihm eine Muschel gegeben, aus der ein intensiver rosaroter Schimmer drang. Als der Junge mir dieses Detail beschrieb, musste ich sofort an das Buch der Schatten denken: die Intemporentas, die Perlen der Langlebigkeit, waren dort so beschrieben.
Zu Gonzals Unglück war jedoch noch jemand anders Zeuge dieser Szene geworden. Ein Mann, der sich im Farn verborgen hatte, warf sich auf ihn, sobald die Fee verschwunden war. Er stach ihm ein Messer mitten ins Herz, füllte Steine in seine Kleider und warf ihn in den Fluss, nachdem er ihm die Muschel aus der Hand gerissen hatte. Bald darauf gab die Familie von Gonzal bekannt, dass der alte Mann vermisst werde. Man suchte nach ihm, fand jedoch nicht die geringste Spur. Da Gonzal schon sehr alt gewesen war, kam man zu dem Schluss, dass er sich von der Welt zurückgezogen habe, um allein und in Frieden zu sterben, wie es manche Menschen tun. Ich erinnere mich noch gut an diese Geschehnisse, und schon damals war ich skeptisch, was diese Theorie anging.
Der kleine Bjorn war traumatisiert von dem, was er gesehen hatte, und traute sich nicht, es zu erzählen. Als der Junge einige Tage später mit seinen Eltern aus Die-Goldene-Mitte zurückkam, wo sie Johannisbeeren verkauft hatten, sah er rein zufällig auf der Straße den Mann wieder, der den alten Gonzal niedergestochen hatte. Auf einmal bekam er schreckliche Angst, und die bewog ihn schließlich dazu, sich mir anzuvertrauen. Dieser Mann hatte einem anderen ein kleines Päckchen übergeben, und den anderen hatte der
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