Oksa Pollock. Die Unverhoffte
missbraucht, bis auf einen, der teuer dafür bezahlt hat.«
»Der Kunstdieb! Der in den USA Gemälde geraubt hat und von einem Polizisten erschossen wurde!«, rief Oksa.
»Ganz genau«, bestätigte Abakum. »Aber zurück zu unserem Thema. Dazu muss ich ein wenig ausholen und in die Zeit zurückgehen, als die Huldvolle Malorane zunächst den Mitgliedern des Pompaments und dann allen Einwohnern Einblick in ihre Träumflüge nach Da-Draußen gewährte. Diese öffentlichen Vorführungen des Filmauges waren etwas völlig Neues in der Geschichte Edefias: Keine Huldvolle vor Malorane hatte dies je gewagt; die meisten hatten sich entweder ganz darüber ausgeschwiegen oder sich damit begnügt, eine verbale Beschreibung dessen zu liefern, was sie auf ihren virtuellen Reisen alles sahen. Allerdings hatten sie dabei vorsichtshalber immer sorgfältig abgewogen, was sie berichteten, und so wichen diese Berichte oft von der Realität ab.«
»Abakum!«, rief Dragomira empört. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»Meine liebe Dragomira, sosehr ich es bedaure, aber leider entspricht das, was ich da sage, der Wahrheit. In Bezug auf die Träumflüge waren die Huldvollen nicht immer ehrlich gegenüber ihrem Volk. Sicherlich wollten sie das Volk von Edefia beschützen und verschleierten nur deshalb, was sie in Wirklichkeit sahen. Indem sie ein unheimliches Bild vom Da-Draußen zeichneten, konnten sie im Lauf der Jahrhunderte unser Volk davon überzeugen, dass die Welt jenseits von Edefia nur Gefahren zu bieten hat.«
»Aber Abakum«, warf Oksa ein, »ich habe irgendwie das Gefühl, dass ihr … also, so eine Art Gefangene in Edefia wart.«
»Oksa!«, rief Dragomira erneut. Sie war sichtlich schockiert.
Eine spannungsgeladene Stille trat ein. Dragomira atmete nervös, ihre Nasenflügel bebten vor Zorn. Abakum betrachtete die Frau, der er sein Leben verschrieben hatte, und dann das Mädchen, auf dem ihrer aller Zukunftshoffnungen ruhten, ihre Unverhoffte.
»Oksa hat recht«, sagte er mit unendlicher Behutsamkeit, den Blick fest auf die alte Dame gerichtet. »Unser Volk wusste zwar immer von der Existenz eines Da-Draußen, doch einige von uns waren überzeugt, dass man ihnen einen Teil der Wahrheit vorenthielt. Niemand wagte, offen darüber zu sprechen, doch im Lauf der Jahrhunderte gab es immer mehr Menschen in Edefia, die sich als Gefangene unserer Welt fühlten.«
»Ich kann nicht zulassen, dass du so etwas behauptest!«, widersprach Dragomira mit Tränen in den Augen. »Edefia hatte den Zustand der Vollkommenheit erreicht. Nirgendwo sonst habe ich je ein so ausgewogenes, von Respekt getragenes und bewundernswertes System gesehen!«
»Aus der Sicht des kleinen Mädchens, das du damals warst, ja, da stimme ich dir zu«, fuhr Abakum fort, und man sah ihm an, dass es ihm nicht leichtfiel, das zu sagen. »Natürlich hatte Edefia nie irgendetwas mit den Diktaturen oder totalitären Staaten gemein, wie man sie im Da-Draußen antrifft. Es war eine harmonische Welt, in der das Leben für den Großteil von uns idyllisch verlief. Aber uns wurde über Generationen hinweg eingeredet, dass anderswo alles schlecht sei, und so schlich sich durch Unwissenheit und Gerüchte mit der Zeit eine unterschwellige Furcht in das Denken und Fühlen der Von-Drinnen ein. Dies war ganz im Sinne der Huldvollen, die ihr Volk vor dem Da-Draußen schützen wollten – ein ehrenwertes Ziel, ich bin der Letzte, der dies bestreiten würde.
Dennoch ist es sehr gut vorstellbar, dass Edefia für manche seiner Bewohner einem Gefängnis gleichkam. Die Reaktionen auf Maloranes damaliges Vorgehen beweisen es ja. Als sie anfing, ihre Träumflüge unzensiert zu zeigen, begannen die Probleme. Gewisse Leute, allen voran Ocious, fühlten sich von den Huldvollen vor Malorane getäuscht: Die Vorstellung, die wir alle von der Welt um uns herum hatten, war völlig falsch. Es wäre sehr ungerecht, die Anhänger von Ocious zu verurteilen, denn trotz der Kriege, der Gewalt, der Ungerechtigkeit war das Da-Draußen eben einfach nicht das, was man uns vorgegaukelt hatte. Binnen weniger Monate entwickelte es sich in unserer Vorstellung zu einer Welt voller Verlockungen, und bei manchen von uns reifte die Überzeugung, dass man dorthin gelangen könne.«
Dragomira war tief getroffen angesichts der Ausführungen Abakums. Mit geballten Fäusten erhob sie sich und rannte mit einem erstickten Schluchzer in die Küche. Oksa sprang sofort auf, um ihr zu folgen, und schüttelte die Hand
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