Oksa Pollock. Die Unverhoffte
ihres Vaters ab, der sie zurückhalten wollte.
»Papa!«, rief sie vorwurfsvoll. »Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie weh ihr das tut?«
Und unter den betretenen Blicken der Rette-sich-wer-kann ging sie entschlossen ihrer Großmutter nach.
Dragomira stand gegen das Spülbecken gelehnt und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Oksa streichelte ihr sanft über die Schulter. »Mach dir nichts draus, Baba. Es ist doch ganz klar, dass du jetzt traurig bist.«
Dragomira putzte sich die Nase und erwiderte mit brüchiger Stimme: »Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass Abakum recht hat. Das weiß ich seit jeher, aber ich wollte es mir nie eingestehen, und das ist es, was mich am meisten wütend macht.«
Sie drehte sich um und betrachtete Oksa lange. Dann gingen sie zu den anderen zurück, die sie schweigend erwarteten. Dragomira setzte sich langsam, hob den Blick zu ihrem Bruder Leomido und fragte ihn mit erstickter Stimme: »Hast du es auch so empfunden? Warst du wie sie? Wolltest du auch das Da-Draußen sehen?«
Leomido schien sich höchst unbehaglich zu fühlen. Dann brachen die Worte förmlich zwischen seinen verzerrten Lippen hervor: »Ja. Wenn du es denn genau wissen willst: Ich bin fast gestorben vor Sehnsucht, nach Da-Draußen zu gehen, die Wüsten und die Ozeane zu durchqueren, den Schnee auf meinem Gesicht zu spüren, andere Sprachen als meine eigene zu hören, ein anderes Lachen als das, was ich kannte und natürlich über alles liebte … Ja, ich hätte alles getan, um nach Da-Draußen gehen zu können.«
»Hättest du die Deinen verraten?«, fragte Abakum.
»Die Meinen haben mich verraten.«
Die zwei Männer maßen sich mit Blicken – nicht feindselig, aber voller Groll und Trauer. Ein tiefer, tiefer Schmerz war in dieser wortlosen Auseinandersetzung zu spüren.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Abakum leise.
Doch anstatt zu antworten, sprang Leomido plötzlich auf und verließ mit steifen Bewegungen das Zimmer. Die Rette-sich-wer-kann blieben in fassungslosem Schweigen zurück.
»Und jetzt?«, fragte Oksa. Auch sie war bestürzt, gleichzeitig jedoch begierig, mehr über diese aufwühlenden Hintergründe zu erfahren. »Was ist nach Maloranes Träumflügen passiert?«
Abakum schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen, als müsse er sich von einem allzu ungeheuerlichen Gedanken befreien. Dann fuhr er mit seiner Erzählung fort: »Unter Ocious’ Führung taten sich Männer und Frauen zusammen und studierten das Verhalten und die Gesellschaftsstrukturen der Von-Draußen. Es wird euch kaum verwundern, dass das Interesse sich vor allem auf Fragen der Machtausübung richtete. Ich erinnere mich noch an eine leidenschaftliche Diskussion zwischen Ocious und einem seiner Freunde, die ich auf einem Flur in der Gläsernen Säule mitanhörte. Ocious war fasziniert von der Allmacht der Ölmagnaten. Er beschrieb detailliert die finanziellen Mechanismen und ihren Einfluss auf die internationale Politik. Dieses Gespräch hat mich gefesselt und mir zugleich ein Frösteln über den Rücken gejagt. Es war alles so anders als das, was wir aus Edefia kannten. Und doch auch wieder nicht: Denn im Grunde ahnte ich, dass auch wir in diese Machtstrukturen abgleiten konnten, die Ocious so bewunderte. Abgesehen von unseren besonderen Fähigkeiten, unterschied uns nichts von den Von-Draußen. Wir sind allesamt Menschen, angetrieben von denselben Zielen, guten wie bösen. Von da an bedrängte Ocious Malorane ständig, erneut Träumflüge nach Da-Draußen zu unternehmen und ihm die Antworten auf all seine Fragen zu liefern. Er wollte alles, absolut alles über Da-Draußen wissen. Und Malorane ist – wer weiß, aus welchen Gründen – seinen Forderungen im Großen und Ganzen nachgekommen.«
Abakum hielt erneut inne und richtete den Blick sanft auf Dragomira. Die Baba Pollock schlug die Augen nieder und presste die Lippen zusammen.
»Ihr wisst, dass die Handkräftigen die Fähigkeit besitzen, Steine aus dem Steilfelsgebirge in Diamanten zu verwandeln. Als Ocious und seine Freunde begriffen, welchen Nutzen sie aus dieser außerordentlichen Fähigkeit ziehen könnten, sahen sie ungeahnte Möglichkeiten für sich. Angetrieben von dem ihnen eigenen Eifer, suchten sie nach einem Weg, um Edefia zu verlassen. Wenn der Geist dies in Form von Träumflügen vollbringen konnte, dann, so sagten sie sich, müsse auch der Körper dazu in der Lage sein. Und natürlich war der Körper dazu in der Lage! Wie ihr alle wisst, war
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