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Oksa Pollock. Die Unverhoffte

Oksa Pollock. Die Unverhoffte

Titel: Oksa Pollock. Die Unverhoffte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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nehmen.«
    »Entschuldigt bitte …« Naftali, der bis jetzt geschwiegen hatte, meldete sich zu Wort.
    Der groß gewachsene Schwede hatte die Hände vor sich auf dem Tisch verschränkt und warf Brune einen Blick zu, aus dem Bedauern und Anspannung sprachen. Seine Frau legte ihm als Zeichen ihrer Unterstützung die Hand auf den Unterarm und erwiderte seinen Blick mit einem zustimmenden Lächeln.
    »Entschuldigt bitte«, hob er noch einmal an, »aber wo wir gerade bei all diesen Enthüllungen sind, habe auch ich euch etwas zu berichten. Etwas sehr Wichtiges in Bezug auf Orthon, das ihr wissen solltet.«
    Oksa bemerkte, dass Leomido einen verärgerten Seufzer unterdrückte. Die Reaktionen ihres Onkels waren wirklich äußerst seltsam. Als er spürte, dass er beobachtet wurde, warf er Oksa einen gequälten Blick zu und schlug dann sofort wieder die Augen nieder.
    »Wovon willst du uns erzählen, Naftali?«, fragte Abakum erstaunt.
    »Vom Geheimbund der Mauerwandler«, erwiderte dieser.
    »Die Mauerwandler?«, stieß der Feenmann hervor. Die Ankündigung schien ihn aus der Fassung zu bringen. »Was weißt du über die Mauerwandler?«
    Brune und Dragomira sahen einander sichtlich beunruhigt über den Tisch hinweg an, während Leomido finster dreinblickte.
    Oksa schaute fragend ihre Eltern an, doch die schienen auch nicht mehr zu wissen als sie selbst.
    Bei den Bellangers herrschte offenbar dieselbe Ahnungslosigkeit. Tugdual dagegen schien allein schon von dem Wort »Geheimbund« elektrisiert zu sein.
    »Dazu muss ich zunächst einmal neun Jahrhunderte zurückgehen«, hob Naftali an und atmete tief durch. »Und von den Durchscheinenden erzählen, die von den Mauerwandlern nicht zu trennen sind. Ihr werdet gleich verstehen, weshalb. Bis zum 12. Jahrhundert waren wir nicht vier Stämme, sondern fünf: die, die ihr alle kennt, und die Durchscheinenden. Die Durchscheinenden hatten immer fernab der anderen Stämme gelebt, nicht weit vom Unzugänglichen, dem wildesten, unwirtlichsten Landstrich Edefias. Sie waren nicht sehr zahlreich, um die fünfzig Individuen vielleicht. Sie waren verschwiegen, lebten autark nach ihren eigenen Regeln und pflegten eine, so schien es jedenfalls, kühle, aber friedliche Nachbarschaft zu den anderen Stämmen. Ich sage bewusst: ›So schien es‹, denn in Wirklichkeit verbarg sich hinter dieser Fassade ein schreckliches Naturell.
    Im Jahr 1145 erlegten ihnen die Alterslosen den Bann der Abgeschiedenheit auf. Damit waren sie gezwungen, für immer isoliert im Grellen Land zu leben, wo das Gestein so gnadenlos hell funkelt, dass jeder Mensch, der sich ihm aussetzt, Gefahr läuft, auf der Stelle zu erblinden. Doch dieses Risiko war ein Teil des Banns, um nicht zu sagen sein eigentlicher Kern: Von nun an konnten die Durchscheinenden nur noch in diesem extrem hellen Landstrich existieren. Das Funkeln des Gesteins war für ihr Überleben unerlässlich geworden. Wenn sie sich davon entfernten, dann erloschen sie, buchstäblich. Im Lauf der Jahre hatte sich ihr Stoffwechsel an diese neuen Bedingungen angepasst. Auf ihrem ganzen Körper hatte sich eine dicke Fettschicht gebildet, die sie vor dem intensiven Licht schützte. Ihre Haut, die schon zuvor recht blass gewesen war, war nahezu durchsichtig geworden, sodass ihre Adern und ihre dunklen Herzen durchschienen. Ihre Gesichtszüge waren immer einfacher und reduzierter geworden: Die Augen überzog eine Membran, wodurch ihr Blick etwas eigenartig Trübes bekommen hatte; die Nase schrumpfte, bis nur noch zwei kleine Schlitze als Nasenlöcher übrig waren; ihr Mund wurde kleiner und die Ohrmuscheln verschwanden ganz.«
    »Das klingt wie Außerirdische«, warf Oksa ein und schnitt eine Grimasse. »Aber wieso wurde ihnen denn dieser Bann der Abgeschiedenheit auferlegt? War es eine Strafe?«
    »Genau das«, sagte Naftali. »Denn die Männer vom Stamm der Durchscheinenden hatten ein furchtbares Laster. Da ihnen jegliches liebevolle Gefühl für ihresgleichen fehlte, waren sie Meister der Jagd geworden, allerdings einer höchst eigenartigen Jagd: der Jagd nach der Leidenschaft.«
    »Was soll denn das heißen?«, fragte Oksa.
    »Jetzt lass ihn doch endlich mal in Ruhe erzählen!«, schimpfte Gus.
    »Die Jagd nach der Leidenschaft«, fuhr Naftali fort, »bedeutet schlicht und einfach, dass diese Männer, die zu eigenen Liebesgefühlen nicht fähig waren, solche Gefühle von anderen stahlen. Zu diesem Zweck schlichen sie sich heimlich nach Grünmantel, nach Steilfels

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