Oksa Pollock. Die Unverhoffte
eine kleine Kostprobe als Vorgeschmack auf die Hölle.«
Dragomira streckte den Arm vor sich aus und spreizte die Finger. Oksa konnte von ihrem Standpunkt aus undeutlich erkennen, wie winzige knisternde Lichtfäden von den Fingern ihrer Großmutter ausgingen und McGraws Körper an die Kellerdecke geschleudert wurde. Bei dem Geräusch, wie er mit voller Wucht wieder auf den Boden krachte, zuckte Oksa unwillkürlich zusammen. Ein qualvoller Schmerzensschrei drang zu ihr herüber.
Während Oksa spürte, dass ihr der kalte Schweiß über den Rücken rann, war ihr auf einmal, als hörte sie ein schwaches Flüstern, eine kaum vernehmbare Stimme, die mit einem Atemzug »Meine Duschka« hauchte. Nun spielte ihr auch noch ihre Fantasie einen Streich! Sie schüttelte den Kopf und wich weiter zur Treppe zurück, während Dragomira, an McGraw gewandt, triumphierend ausrief: »Na, was ist jetzt aus deiner selbstgerechten Arroganz geworden?«
Oksa betrachtete ihre Großmutter fassungslos: Wie konnte sie, die sonst keiner Fliege etwas zuleide tat und immer wieder den Respekt vor allen Lebensformen predigte, plötzlich ein solches Vergnügen daran finden, jemanden leiden zu lassen? Ihr ungutes Gefühl wurde auch noch von ihrem Ringelpupo verstärkt, das hektisch um ihr Handgelenk pulsierte. Ganz anders als gewöhnlich tat das Ringelpupo alles, um seine Herrin in noch größere Unruhe zu versetzen!
Und jetzt fing auch noch das Wackelkrakeel an: Es kam aus Oksas Umhängetasche hervor, flog ans Ohr seiner jungen Herrin und flüsterte ihr ein paar Worte zu.
»Was sagst du da?«, murmelte Oksa.
»Die Großmütter sind nicht das, was sie scheinen«, wiederholte das kleine Geschöpf.
»Das ist jetzt nicht der passende Moment zum Philosophieren, liebes Krakeel«, gab Oksa leise zurück, während sie nervös zu ihrer Großmutter hinüberspähte, die immer noch im Eingang zu dem kleinen Raum stand und mit ihrem Opfer beschäftigt war. »Es ist so schon alles kompliziert genug.«
»Oksa! Pssss … Oksa!«
Oksa drehte sich abrupt um. Am Fuß der Treppe stand Gus!
»Irgendwas stimmt hier nicht!«, flüsterte er atemlos. Sein Gesicht war leichenblass.
»Ja, das Gefühl hab ich auch. Wir müssen nachsehen«, sagte Oksa nachdenklich. »Uns bleibt nichts anderes übrig. Glaubst du, wir schaffen das?« Sie schaute eindringlich in Gus’ angstvoll aufgerissene Augen.
»Ich habe eine Höllenangst, wenn du es genau wissen willst«, flüsterte Gus. »Aber du hast recht. Wir müssen nachsehen, wer da in dem Zimmer ist. Los, beeil dich!«
Oksa schlich sich an Dragomira heran und Gus folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand. Als sie fast an der Schwelle zu dem finsteren kleinen Raum angelangt war, setzte sie ihr Granuk-Spuck an die Lippen und sprach lautlos die Formel:
Mit Granuk-Kraft
Ergieß deinen Saft!
Ich rufe die Phosphorillen,
Mit ihren Tentakeln mich zu erhellen.
Sofort kam ein winziger orangefarbener Krake aus der Öffnung des Blasrohrs zum Vorschein, erhob sich in die Luft und warf ein so helles Licht in den Keller, dass Dragomira und Gus, die nicht darauf vorbereitet waren, die Augen zukneifen mussten. Oksa hingegen, die sich vorsorglich eine Hand vor die Augen gehalten hatte, ging noch einen Schritt weiter vor und warf einen raschen Blick in den kleinen Raum. Die ungute Ahnung, die sie nach und nach überkommen hatte, bestätigte sich nun.
»BABA?!«, rief Oksa voller Entsetzen.
Und sie hatte auch allen Grund, entsetzt zu sein. Denn auf dem Boden des winzigen Raumes lag, zusammengesunken in einer Ecke, Dragomira – noch eine Dragomira! – mit verrenkten Gliedmaßen und blutüberströmtem Gesicht.
Rettung aus dem Keller
D
ie Dragomira auf dem Boden des kleinen Raums war in einem schlimmen Zustand. Tränen liefen ihr über das Gesicht und zogen Streifen über ihre von Schmutz und dem Blut aus einer Kopfwunde bedeckten Wangen. Sie wandte das Gesicht Oksa zu und sah ihr tief in die Augen. Oksa zitterte, so erschüttert war sie von dem Schmerz und der Traurigkeit, die aus diesem flehenden Blick sprachen.
»Nun sieh einer an, unser guter Orthon versucht es mit einer List! Sehr geschickt, Orthon, mein Glückwunsch!«
Oksa erstarrte vor Schreck: Die erste Dragomira hatte sie von hinten mit festem Griff an den Schultern gepackt. Hilfe suchend blickte das Mädchen zuerst nach oben zu der alten Dame, die sie so unerbittlich zu sich herzog, und dann zu der zweiten alten Dame, die gegen eine Ohnmacht anzukämpfen schien.
»Was
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