Oksa Pollock. Die Unverhoffte
hat das zu bedeuten?«, fragte Oksa stammelnd.
»Meine liebe Kleine«, antwortete die erste Dragomira, »Orthon hat ganz einfach die Metamorphose benutzt und versucht gerade, sich für mich auszugeben.«
»Die Metamorphose? Dann funktioniert es also?«, rief Oksa.
»Natürlich funktioniert es! Bemerkenswert, nicht wahr? Aber lass dich nicht davon einwickeln, meine Kleine! Der Zweck der Metamorphose ist es, Leute zu täuschen. Du darfst dich nicht von diesem tränenreichen Blick erweichen lassen! Dieser Mann bekommt nur, was er verdient. Und er würde keine Sekunde zögern, mich umzubringen, wenn ich an seiner Stelle wäre. Stimmt’s, Orthon?«
»Oksa, meine Duschka, um Himmels willen, hör nicht auf ihn!«, flehte die Dragomira Nummer zwei mit kraftloser Stimme. »Sieh mich an, und du wirst wissen, dass ich es bin!«
»Schweig still!«, schrie die erste Dragomira. »Es wird dir nicht gelingen, uns zu täuschen. Ich bin Dragomira Pollock, die einzige, und vor allem die echte!«
»Was beweist uns, dass du die Wahrheit sagst?«, meldete sich auf einmal eine unsichere Stimme hinter ihnen.
Die erste Dragomira drehte sich abrupt um und riss Oksa mit sich. Im Halbdunkel, in der entgegengesetzten Ecke des Kellers, stand der Urheber dieser Frage, kerzengerade wie eine Eins, aber zitternd vor Angst.
»Oksa! PASS AUF!«, schrie Gus und suchte hastig unter einer wurmstichigen Werkbank Schutz.
An der Schwelle zu dem kleinen Raum war jetzt die zweite Dragomira aufgetaucht: Sie schwankte und Blut lief ihr über die Stirn. Die erste Dragomira steuerte sofort auf sie zu, wobei sie Oksa immer noch mit sich zerrte, und fegte mit gewaltigen elektrischen Blitzen alles aus dem Weg, was ihr Vorankommen behinderte. Die Weinregale aus Holz flogen samt den Flaschen darin durch die Gegend, Glas zersplitterte auf dem Boden und Wein spritzte an die Wände. Die Glühbirne, die an einer Schnur von der Decke hing, schaukelte wild hin und her und tauchte den Keller in ein gespenstisch flackerndes Licht.
Panisch versuchte Oksa, sich aus dem eisernen Griff zu befreien. Sie musste einen Weg finden, um endlich klarzusehen! Sie hatte zwei Dragomiras vor sich, aber nur eine von beiden konnte die echte sein! In Oksas Gehirn herrschte nur noch ein wildes Durcheinander. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sie handeln musste. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie ihr Lieblingsmanöver ausgeführt: Abheben im Turbogang! Sie befreite sich mit einem Ruck aus der Umklammerung, schoss in die Höhe bis knapp unter die Decke und landete mit einer Rückwärtsrolle auf einem Tisch weiter hinten im Keller.
»Baba, bitte gib dich zu erkennen! Hilf mir!«, rief sie flehentlich.
»Oksa, ich bin hier, meine Kleine, ich bin deine Großmutter Dragomira! Vertrau mir«, sagte die erste Dragomira und kam mit eindringlichem Blick langsam auf sie zu.
»Glaub diesem Schwindler nicht, meine Duschka, ich bin deine Baba, deine Baba, die dich liebt und dich immer lieben wird«, sagte die Dragomira Nummer zwei, vor Schmerzen gekrümmt und zitternd.
Die beiden Dragomiras richteten ihre Granuk-Spucks aufeinander, während Gus Oksa irgendwelche Zeichen machte, die sie nicht verstand. Was für ein Albtraum! Oksa kramte in ihrer Tasche, ohne die beiden aus den Augen zu lassen. Sie glichen einander bis aufs i-Tüpfelchen. Diese Metamorphose war unglaublich! Dasselbe Gesicht, dieselben zu Zöpfen geflochtenen und um den Kopf gewundenen Haare, dieselben Kleider. Es war unmöglich, sie zu unterscheiden. Nur dass die eine sehr viel mitgenommener und blutverschmierter aussah, was allerdings nicht verwunderte, wenn man bedachte, wie übel ihr zugesetzt worden war. Trotzdem beeinflusste der mitleiderregende Zustand dieser Dragomira Oksas Gefühle und damit ihr Urteilsvermögen.
Oksa öffnete ihre kleine Schatulle, nahm einen Exzelsior-Befähiger heraus und schluckte ihn. Hoffentlich würde sie damit klarer denken können. Allein nach ihrem Gespür wäre sie nie in der Lage, Richtig und Falsch zu unterscheiden. Ihr Herz neigte zu Dragomira Nummer zwei, dafür sprach auch einiges, allerdings waren dies keine eindeutigen Beweise. Seit sie den Keller betreten hatte, war ihr die erste Dragomira seltsam vorgekommen. Ihr Verhalten und das, was sie sagte, konnte Oksa nicht mit ihrer geliebten Großmutter in Einklang bringen. Und wenn tatsächlich die erste Dragomira die echte war, dann war die Vorstellung, dass ihre Großmutter einen Mann unerbittlich quälte, der sich bereits vor Schmerzen am
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