Oksa Pollock. Die Unverhoffte
aufgeregt leuchtenden Augen. Was für ein Schock! Oksa war wie eine Schwester für ihn. Nein, mehr als eine Schwester. Sie war sein Alter Ego. Diejenige, die ihn, nach seinen Eltern, am besten kannte. Genauso gut, wie er sie kannte. Bis jetzt jedenfalls … Denn das, was sie ihm gerade gezeigt hatte, überstieg seine kühnsten Fantasien. War Oksa eine Hexe? Ein übernatürliches Wesen? Eine Fee? Es war kaum zu glauben, aber es gab keinen Zweifel: Sie war ein bisschen von alldem!
»Du könntest dir eine Menge Ärger einhandeln, wenn das bekannt wird«, sagte Gus tief beunruhigt. »Ist dir klar, dass du offenbar ein kleines bisschen anders bist als die anderen?«
Oksa nickte eifrig.
»Weißt du, was man vor nicht allzu langer Zeit mit solchen Leuten wie dir gemacht hat? Man hat sie bei lebendigem Leib verbrannt oder so lange von Bäumen baumeln lassen, bis nur noch vertrocknete Kadaver übrig waren.«
»Jetzt übertreib mal nicht, Gus, wir leben im 21. Jahrhundert. Aber trotzdem vielen Dank für den Hinweis, das ist wirklich nett von dir!«
Es hatte gerade achtzehn Uhr geläutet, als Gus und Oksa sich auf den Nachhauseweg machten, froh, dass sie sich wieder ausgesöhnt hatten. Doch kurz bevor sie in ihre Inliner schlüpfte, verdüsterte sich Oksas Miene wieder.
»Ist was?«, fragte Gus beunruhigt.
»Ich wollte eigentlich nicht darüber reden, aber, ja, da ist was.«
»Noch etwas?«
Oksa zögerte. »Er ist nicht der, für den er sich ausgibt.«
»Von wem sprichst du denn?«
»Von McGraw. Es ist schwer zu erklären …«, sagte sie mit gesenktem Blick. »Er ist gar kein Lehrer. Das ist nur seine Tarnung.«
»Was ist das denn für eine Geschichte?«
»Hör mir bitte erst mal zu, ja?«, bat Oksa nervös. »Ich habe es mir gut überlegt, und es passt alles zusammen, du wirst sehen. Erstens: McGraw wusste schon, wer ich bin, bevor ich überhaupt an die Schule kam. Garantiert! Weißt du noch, als Monsieur Bontempi uns im Hof aufgerufen hat? Da hat er meinen Namen falsch ausgesprochen und McGraw hat ihn unterbrochen und verbessert. Seltsam, nicht? Zweitens: Er schickt mich aus dem Unterricht – angeblich, weil ich mit dem Stuhl Krach gemacht habe. Aber könnte es nicht auch wegen des Stifts gewesen sein, den ich ihm aus der Hand gerissen habe?«
Gus sah sie zweifelnd an. Oksas Theorie verwirrte ihn.
»Drittens: Es ist noch was vorgefallen … etwas Schlimmes.«
Gus blickte noch fragender.
Sie erzählte ihm die Sache mit dem »mitten im Flug aufgefangenen Fläschchen« bis ins Detail.
Gus stützte den Kopf in die Hände. »Du bist verrückt!«
»Ich kann nichts dafür, es war ein reiner Reflex. Und er stand einfach da, starrte mich an und sagte keinen Ton. Mit dem Typen stimmt was nicht, Gus. Ich glaube, dass er an der St.-Proximus ist, weil er etwas – oder jemanden – sucht. Und das bilde ich mir nicht nur ein.«
»Oh nein, das würde dir gar nicht ähnlich sehen«, unterbrach Gus sie ironisch. »Die Pollocks sind ja bekannt für ihre Bodenhaftung. Und was schließt du daraus?«
»Glaub mir. Er hat für die CIA gearbeitet. Und jetzt zähl zwei und zwei zusammen und überleg dir, was übernatürliche Fähigkeiten, wie ich sie habe, für die CIA oder irgendeinen anderen Geheimdienst bedeuten können. McGraw wusste noch vor mir über meine Fähigkeiten Bescheid, er kennt mich besser als ich selbst. Er weiß alles! Ich habe keine Ahnung, wie er es gemacht hat und weswegen er genau hier ist, aber ich bin sicher, dass es etwas mit mir zu tun hat. Du denkst jetzt bestimmt, dass ich unter Verfolgungswahn leide, aber ich habe Angst, Gus.«
»Angst? Wieso denn?«
»Ich weiß nicht. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich anders bin als die anderen. Erinnerst du dich noch an die Geschichte mit den Heuschrecken?«, fragte sie plötzlich aufgebracht.
»Welche Heuschrecken?«
»Wir haben vor Kurzem darüber geredet. Über die Wissenschaftler, die diese mikroskopisch kleinen Würmer, die sich im Hirn von Heuschrecken einnisten, erforschen wollen …«
»Stimmt«, unterbrach Gus sie. »Jetzt weiß ich es wieder. Es gibt Heuschrecken, die sich ins Wasser stürzen und sterben, weil sie nicht schwimmen können. Man hat lange Zeit geglaubt, dass sie sich das Leben nehmen, doch das geht gar nicht, weil Tiere so etwas nicht können. Es war immer ein Rätsel, bis man entdeckte, dass es einfach nur an den Würmern in ihrem Hirn liegt. Wenn der Zeitpunkt der Fortpflanzung gekommen ist, lenken sie die
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