Oksa Pollock. Die Unverhoffte
spät es war: neun Uhr abends. Sie hatte nur eine knappe Stunde geschlafen. Sollte sie gleich ins Bett gehen oder vorher noch etwas anderes machen? Sie war unschlüssig … Aus reinem Übermut warf sie einen kleinen Feuerball in Richtung Kamin, um das erloschene Feuer wieder anzufachen.
»Yes!« , jubelte sie und streckte die geballten Fäuste zum Zeichen des Triumphs in die Luft.
Da sah sie ein großes Blatt Papier auf dem Tisch vor sich liegen, eine Nachricht ihrer Mutter.
Du bist eingeschlafen, meine Große, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, dich zu wecken. Ich bin kurz im Restaurant, um Pierre zu helfen. Schlaf gut, mein Kind, ich hab dich lieb. Mama.
Immer noch ein wenig benommen, suchte Oksa ihre Schulsachen zusammen und ging dann in ihr Zimmer hinauf. Sie zog ihre Schlafanzughose und ein anderes T-Shirt an, putzte sich die Zähne und fragte sich, ob sie wirklich gleich ins Bett gehen sollte. Unschlüssig entschied sie sich dann, erst einmal ihrer Baba Gute Nacht zu sagen.
Sie hatte ihre Großmutter gestern Abend zuletzt gesehen, als sie ihr Salbe auf den Bauch geschmiert hatte. Beim Gedanken daran hob sie ihr T-Shirt hoch, um nachzusehen, was aus dem blauen Fleck geworden war.
»Ooh! Was ist das denn?«
Die Salbe hatte gut gewirkt. Der Bluterguss, der vor Kurzem noch in allen Farben des Regenbogens geschillert hatte, war verblasst. Doch seltsamerweise waren noch seine Umrisse um ihren Nabel zu sehen, sie bildeten einen perfekt symmetrischen Stern mit acht Zacken, die jeweils etwa fünf Zentimeter lang waren. Die Linien waren so gleichmäßig, als wären sie mit dem Lineal und einem lila Filzstift gezogen. Ihre Haut war etwas angeschwollen, doch es tat überhaupt nicht weh. Beunruhigt und zugleich fasziniert ging Oksa zur Wohnung ihrer Großmutter hinauf.
Das Gipfeltreffen
O
ksa blieb auf dem Treppenabsatz stehen und lauschte. Viele Stimmen mischten sich zu einem sehr ernst wirkenden Gespräch. Besorgt klingende Wortfetzen drangen trotz der geschlossenen Tür an ihr Ohr. Ein merkwürdiges Treffen, dachte Oksa, jedenfalls überschlagen sie sich da drinnen nicht gerade vor Freude … Sie trat noch einen Schritt näher und beschloss, einen Blick durchs Schlüsselloch zu werfen, bevor sie klopfte. Sie sah den Rücken ihrer Großmutter mit ihren um den Kopf gewickelten Zöpfen. Neben ihr saß Pavel steif in einem Sessel, ihm gegenüber eine dunkelhaarige Unbekannte, die Oksas Vater mit besorgter Miene aufmerksam musterte. Oksa hörte eine Stimme, die sie als die von Leomido, Dragomiras Bruder, erkannte.
»Ihr müsst zugeben, dass die Frage unausweichlich ist, liebe Freunde.«
Am liebsten wäre sie hineingegangen, und sei es nur, um ihren heiß geliebten Großonkel zu begrüßen.
»Ist dir klar, was du da von mir verlangst?«, erklang die Stimme von Oksas Vater. »Vor ein paar Wochen, als wir dieses Problem hatten – so wollen wir es mal nennen –, habe ich getan, was ich konnte, um unsere Flucht unter bestmöglichen Bedingungen zu organisieren. Das musst sogar du zugeben, liebe Mutter. Doch ich habe es nur zum Schutz meiner Familie getan, damit das klar ist. Aus meinem Widerstand gegen eine mögliche Rückkehr habe ich nie einen Hehl gemacht.«
Oksa hatte ihn noch nie so tiefernst sprechen hören. Dabei war Tragik sein Element! Worum ging es hier? Wovon sprachen sie alle? Und von was für einer Flucht war die Rede?
»Wir haben alle Familie, wir sind alle echte Von-Draußen geworden«, fügte Pavel Pollock mit erstickter Stimme hinzu.
»Das stimmt«, entgegnete eine Frau. »Aber keiner von uns hat vergessen, wer er ist und woher er kommt. Du bist Dragomiras Sohn, Pavel, du weißt, was das bedeutet.«
»Außerdem sind wir zwar wieder einmal überstürzt aufgebrochen«, fügte Dragomira hinzu, »aber dir muss klar sein, dass es nur ein erneuter Aufschub ist. Wir werden niemals in Sicherheit sein. Nirgends.«
Den Rest konnte Oksa nicht verstehen. Sie war ganz benommen von dem, was sie da gerade gehört hatte, und die Gedanken fuhren in ihrem Kopf Karussell. Schon lief ihre Fantasie auf Hochtouren: Ihr Vater und ihre Großmutter waren die Anführer einer Verschwörung! Oder einer Geheimgesellschaft. Einer Bande von Spionen. Spione aus dem Osten, natürlich! Oder noch schlimmer: Mitglieder der mächtigen russischen Mafia! Oksa biss sich auf die Lippen und sah Bilder von blutigen Kämpfen rivalisierender Clans vor sich.
Ihre Neugier war geweckt und sie blickte noch einmal durchs
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