Oksa Pollock. Die Unverhoffte
äußerst selten.
»Wie geht es dir, meine Hübsche? Groß bist du geworden!«
Oksa hatte ihn vor einem halben Jahr zuletzt gesehen. Sie mochte gewachsen sein, Leomido dagegen war völlig unverändert: lang, hager, mit feinen Gesichtszügen, klaren blauen Augen und einem strahlenden Lächeln, das seine blendend weißen Zähne noch betonte. Er war sehr vornehm und trug einen schwarzen Gehrock aus Samt mit zarten granatfarbenen Streifen und dazu eine perfekt geschnittene Hose aus Wollstoff. Sein langes weißes Haar wurde von einem dunkelvioletten Band in einem Pferdeschwanz zusammengehalten.
»Guten Abend, liebe Oksa!«
»Abakum!«
Es war Dragomiras Patenonkel, der sie gerade begrüßt hatte, und Oksa warf sich entzückt in seine Arme. Abakum hatte Frankreich vor einigen Wochen ebenfalls verlassen, um sich endgültig in dem Wochenendhaus niederzulassen, das ihm seit langem gehörte, ein wunderschön restaurierter alter Bauernhof, etwa fünfzig Kilometer von London entfernt.
Der knapp achtzigjährige Mann, der trotz seines krummen Rückens sehr groß wirkte, hatte einen wachen Blick. Er war kräftig gebaut und trug einen kurzen, perfekt gestutzten Bart. Seine Gesichtszüge strahlten große Weisheit aus. Trotz seiner natürlichen Zurückhaltung zog er immer alle Aufmerksamkeit auf sich, sobald er einen Raum betrat, ohne dass man hätte sagen können, warum. Seit Dragomiras Geburt sorgte er für sie. In Paris hatten beide zusammen in dem Kräuterhaus gearbeitet, das ihr gehörte, und er war auf dem Gebiet der Botanik genauso bewandert wie sie.
In diesem Moment wurde Oksa wieder von den schrecklichen Frauenschreien heimgesucht, die sie schon im Badezimmer gehört hatte. Sie erblasste, hielt verängstigt inne und warf Abakum einen erschrockenen Blick zu. Auch der alte Mann schien sich plötzlich sehr unwohl zu fühlen. Er verzog das Gesicht und legte sich nervös die Hände auf die Ohren. Kurz darauf verstummten die Schreie.
»Geht es dir nicht gut, Abakum?«, fragte Dragomira sofort.
»Danke der Nachfrage«, sagte er, als er sich wieder gefasst hatte. »Ich habe eine schlimme Ohrenentzündung und bekomme immer mal wieder stechende Schmerzen, auf die ich liebend gern verzichten würde …« Bei diesen Worten ließ er Oksa nicht aus den Augen.
»Eine Ohrenentzündung?«, wunderte sich Dragomira. »Wo hast du dir die denn eingefangen, mein Lieber?«
»Weiß der Himmel«, sagte Abakum mit einem unergründlichen Lächeln. »Aber das ist nur ein kleines Ärgernis, von dem wir uns nicht ablenken lassen sollten. Ich bitte dich, Dragomira, stell Oksa doch deine Freunde vor.«
»Oksa, das ist Mercedica de La Fuente, eine alte Freundin aus Spanien.«
»Guten Abend, Oksa«, sagte die spanische Dame mit einem leichten Kopfnicken. »Es ist mir eine große Ehre, dich kennenzulernen.«
Mercedica war schlank und groß. Ihr ovales Gesicht wurde von tiefschwarzen, fast bläulichen Haaren umrahmt, die in einem verschlungenen Knoten festgesteckt waren. Sie trug ein mohnrotes Kostüm mit einem hohen Stehkragen, der ihr eine stolze Haltung verlieh. Ihre Augen, die genauso dunkel waren wie ihr Haar, musterten Oksa mit großer Neugier.
»Tugdual?«
Abakum sprach einen vierten Gast an, den Oksa bisher übersehen hatte. Die langen Beine über eine der Lehnen gelegt, lümmelte er lässig in einem Sessel in der hintersten Ecke des Wohnzimmers. Als er seinen Namen hörte, erhob sich der Junge und kam herbei. Er war etwa fünfzehn Jahre alt und die seltsamste Person von allen, obwohl die anderen Gäste schon ausgefallen genug waren. Er war von Kopf bis Fuß schwarz im Gothic-Stil gekleidet: Hose und Rock in Schichten übereinander, ein eng anliegendes Hemd und dazu schwere Silberketten mit Kreuzen und Anhängern um den Hals. Seine Augen wirkten ein wenig verloren in dem bleichen, mageren Gesicht voller Piercings. Die blasslila Ringe um die geschminkten Augen, die teils von seinem langen kohlrabenschwarzen Haar verdeckt wurden, verliehen seinem Blick einen Ausdruck, in dem sich Verzweiflung und Feindseligkeit mischten. Die Ausstrahlung des düsteren Jungen war so außergewöhnlich, dass Oksa die Augen nicht von ihm lassen konnte.
»Hallo«, sagte er in frostigem Ton, ehe er an seinen Platz zurückkehrte.
Oksa spürte, wie sie rot wurde. Sie schämte sich, von diesem merkwürdigen Jungen im Schlafanzug gesehen zu werden. Der Gedanke war zwar unter den gegebenen Umständen ziemlich absurd, doch diese Erkenntnis beruhigte sie auch nicht.
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