Oksa Pollock. Die Unverhoffte
deutlicher.
»Was für eine Geistesgegenwart, meine Huldvolle!«, bemerkte Abakum mit bebender Stimme.
»Dank den Bienen«, entgegnete Malorane.
»Es ist uns eine Ehre, Euch zu dienen, verehrte Huldvolle«, summten diese laut und brachten dabei ihre Körbe gefährlich ins Schwanken.
»Wir sind bald da!«, verkündete Leomido.
Das Filmauge heftete sich an den Horizont. Es war ein eigenartiger Himmel mit undefinierbarer, fast mysteriöser Färbung.
»Bestimmt ist das die Grenze Edefias«, murmelte Oksa. Sie verstand nun, was ihre Großmutter gemeint hatte, als sie von einer auf der Erde »unbekannten Farbe« gesprochen hatte.
Am Rand eines sehr dichten Waldes, der einen glitzernden See umgab, setzten die Riesenhühner zum Landeanflug an und kamen schließlich sanft am Boden auf.
»Seht mal! Naftali ist schon da!«, rief Dragomira, während sie auf einen kolossal großen Baum zurannte, dessen Stamm mindestens vierzig Meter Durchmesser hatte. Zusammen mit einem Dutzend anderer Leute, die man vorher am Turm hatte kämpfen und dann fliehen sehen, kam ein Mann mit smaragdgrünen Augen herbei.
»Als wir Die-Goldene-Mitte verlassen haben, war Ocious da, wir sind gewarnt worden, dass Treubrüchige versuchen würden, uns aufzuhalten«, berichtete Naftali. »Beeilt euch, sie sind sicher nicht mehr weit!«
Dragomiras Blick fiel auf einen roten Vogel, der gerade angeflogen kam.
»Da ist dein Phönix«, sagte Malorane mit matter Stimme. »Er wurde aus der Asche meines Phönix geboren, als das Mal auf deinem Bauch erschien.«
Sie sah abgekämpft aus und ihr Gesicht war noch blasser als zuvor.
»Alles, was uns zustößt, ist meine Schuld, mein Kind. Aufgrund meines Versagens bricht schreckliches Leid über Edefia herein und stürzt uns ins Chaos. Die Mächte, die über die Kammer des Umhangs herrschten, sind vernichtet worden. Denn indem ich das Geheimnis-das-nicht-enthüllt-werden-darf verraten habe, habe ich zerstört, was das Wesen unserer Welt ausmacht – das Gleichgewicht und den Respekt vor jeder Lebensform.«
Sie nahm eine zarte Kette vom Hals, an der ein eindrucksvoller, uralter Anhänger hing.
»Dieses Medaillon gehört den Huldvollen. Du musst es immer bei dir tragen, als ginge es um dein Leben«, flüsterte sie Dragomira ins Ohr, während sie ihr die Kette um den Hals legte. »Das Tor wird sich dank der Vereinigung der Alterslosen und der Seelen der ehemaligen Huldvollen öffnen. Doch indem sie dir ihre Fähigkeiten verleihen, werden sie ruhelos. Es ist deine Aufgabe, die Macht zu entdecken, die diesen Fluch aufheben wird. Wenn du mit deinem Mut den richtigen Weg findest, wird die Kammer mir verzeihen. Vergiss nie, was ich dir jetzt sage: In dir liegt die Lösung. Du bist die Trägerin der Hoffnung Edefias.«
»Aber, Mama, ich will bei dir bleiben!«, schluchzte das junge Mädchen.
»Vertrau mir!«, flehte Malorane. »Und vergiss niemals …«
Nun war der Phönix ganz nah. Er setzte sich zu Dragomiras Füßen, und sie bückte sich, um sein prachtvolles Gefieder zu streicheln. Plötzlich drehte sie den Kopf und das Filmauge folgte ihrem Blick: Dutzende von Männern kamen mit hoher Geschwindigkeit auf den gigantischen Baum zugeflogen.
»Geh, Dragomira! GEH JETZT!«, befahl Malorane.
Der Phönix stimmte einen inbrünstigen Gesang an, der alle zutiefst bewegte. Dann erschien ein Lichtbogen, der in der hereinbrechenden Abenddämmerung vor dem Hintergrund der mysteriösen Farbe funkelte.
»Geht! GEHT DURCH DAS TOR! LASST DRAGOMIRA AUF KEINEN FALL LOS! Und ihr anderen, gebt ihr Deckung, schnell!«, schrie Malorane, so laut sie konnte.
Abakum und Leomido packten die weinende Dragomira und rannten mit ihr zum Lichtbogen. Naftali überholte sie im Flug und verschwand plötzlich, als er den Bogen erreichte, wie einige andere ihrer Freunde, die sich ebenfalls scheinbar in nichts auflösten. Einer wurde von den Treubrüchigen getroffen und brach zusammen. Das Filmauge schwenkte zu Waldo, er warf sich den Treubrüchigen, die seine Tochter verfolgen wollten, in den Weg. Auf einmal hielt er mitten im Lauf inne und stürzte schwer zu Boden. Dragomira stieß einen markerschütternden Schrei aus. In einiger Entfernung kämpfte Malorane gegen Ocious. Offenbar hatte sie eine Kopfverletzung, denn ihr Gesicht war blutüberströmt. Sie schnellte in die Luft und versetzte dem Anführer der Treubrüchigen mit letzter Kraft heftige Fußtritte, dann ließ sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn fallen. Schließlich brachen
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