Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Riesenhilfe!«, sagte Oksa in gespielt vorwurfsvollem Ton.
»Du hast dich aber ganz gut selbst aus der Affäre gezogen«, sagte Gus grinsend.
Oksa bleckte die Zähne und knurrte, ehe sie zurücklächelte. »Jedenfalls glaube ich, dass wir hier zwei typische Treubrüchige gesehen haben, oder?«
»Meinst du die Hyäne und den Aasgeier?«, fragte er.
»Genau. He, das wäre doch ein Supertitel für ein Buch: Die Hyäne und der Aasgeier – Die heldenhaften Abenteuer der huldvollen Oksa und des wackeren Gus. Nicht schlecht, oder?«
Anschließend führten sie ihr Gespräch aus dem Verschlag noch eine Weile leise fort. Dann läutete es, und zusammen mit Merlin kehrten sie in ihr Klassenzimmer zurück, ein Herz und eine Seele dank des Geheimnisses, das sie nun teilten und von dem Gus geschworen hatte, dass er es um keinen Preis verraten werde.
»Ich bin doch nicht wahnsinnig«, hatte er gesagt. »So was kann man gar nicht erzählen, die würden mich nur für verrückt halten, in eine Zwangsjacke stecken und ins Irrenhaus einliefern.«
Als Oksa nach der Schule das Haus am Bigtoe Square betrat, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Geräusch des Fernsehers, der sonst nie um diese Tageszeit lief, und die gedämpften Stimmen ihres Vaters und ihrer Großmutter drangen an ihr Ohr. Leise stellte sie ihre Schultasche ab, zog die Schuhe aus und schlich sich zur offenen Glastür des Wohnzimmers.
»Komm her, Pavel!«, rief Dragomira gerade, während der Vorspann der BBC-Nachrichten zu hören war. »Es geht los!«
»Guten Abend, meine Damen und Herren«, sagte der Nachrichtensprecher. »Die Meldung des Tages: Peter Carter, ein bekannter amerikanischer Enthüllungsjournalist, wurde heute Morgen tot in einem Londoner Hotel aufgefunden. Die Ermittler von Scotland Yard räumen ein, dass es sich um einen höchst rätselhaften Fall handelt, da der Tod offenbar durch die völlige Auflösung der Lunge des Opfers verursacht wurde. Es wurden minimale Mengen einer Substanz gefunden, deren Eigenschaften nur teilweise bekannt sind. Die Herkunft der Substanz ist zum jetzigen Zeitpunkt noch ungeklärt, doch weitere Analysen werden zurzeit durchgeführt. Politik: Polens Ministerpräsident zu Besuch in England …«
Plötzlich verstummte der Fernseher und es war mucksmäuschenstill. Oksas Herz schlug wie wild. Krampfhaft hielt sie die Luft an. Erst als Dragomira endlich etwas sagte, wagte sie wieder, zu atmen.
»Oh Gott!«, stieß die Baba Pollock mit erstickter Stimme hervor. »Peter Carter, ermordet! Hier in London! Das darf nicht wahr sein …«
»Wie ist das möglich?«, sagte nun Pavel.
»Ich habe keine Ahnung. Mein lieber Pavel, ich fürchte, es muss einer von uns gewesen sein …«
»Wie meinst du das?«, fragte er.
»Ich weiß, dass es dir schwerfallen wird, es zu akzeptieren, aber ist dir aufgefallen, wie Carter gestorben ist?«
»Er hat ein Pulmonis abbekommen«, antwortete Pavel ernst.
»Also steckt zwangsläufig einer von uns dahinter!«
»Ich weiß, Mutter«, sagte er in einem schleppenden, resignierten Ton. »Es tut mir leid, dass Carter gestorben ist, aber er hat uns eine Menge Ärger gemacht und hätte jetzt, wo er in London war, nicht damit aufgehört. Es ist natürlich schrecklich, es zuzugeben, aber wer auch immer das getan hat, hat uns von einer großen Gefahr befreit.«
Oksa war wie vom Donner gerührt. Ihre Familie war an der Ermordung eines Mannes beteiligt! Aber warum nur? Schweißgebadet drückte sie den Rücken gegen die Wand. Ein Bild des Filmauges fiel ihr siedend heiß ein: Malorane, die einen der Treubrüchigen mit einer gefährlichen Flüssigkeit getroffen hatte. Seine Lunge hatte sich aufgelöst! Genau so war Peter Carter gestorben, es war ein Albtraum! Doch sie würde daraus aufwachen. Sie musste aufwachen, unbedingt. Stattdessen blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle zum Wohnzimmer stehen, hellwach und vor allem zutiefst schockiert von dem, was sie da gehört hatte.
Schließlich schob sie sich mit dem Rücken an der Wand Zentimeter für Zentimeter zu der Treppe, die zum ersten Stock führte. Ohne das geringste Geräusch ging sie in ihr Zimmer hinauf und warf sich aufgewühlt aufs Bett. Hatte Dragomira wirklich gesagt: »Also steckt zwangsläufig einer von uns dahinter!«? Aber warum sollte ihre Familie diesen Journalisten umgebracht haben?
Verzweiflung bei den Pollocks
D
ie ganze nächste Woche herrschte eine sehr eigenartige Atmosphäre im Haus. Alle gingen ihren
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