Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Rette-sich-wer-kann aus Edefia sollte niemand über die Ereignisse der letzten Wochen Bescheid wissen, Gus genauso wenig wie alle anderen.
»Ach Oksa! Tu doch nicht so! Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass du ihm nichts erzählt hast«, entgegnete Dragomira spöttisch.
»Du weißt aber auch immer alles, das nervt!«, schnaubte Oksa, gab sich aber geschlagen. »Wie machst du das nur?«
»Das ist mein kleines Geheimnis. Sag mal, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Alles, was du willst.«
»Geh und hol deine Eltern, bitte.«
Oksa rührte sich nicht von der Stelle, sie hatte ein ganz schlechtes Gefühl. Das musste an ihrem Gewissen liegen, das sich verspätet zu Wort meldete.
»Du brauchst wirklich keine Angst zu haben«, sagte Dragomira. »Und jetzt geh und hol sie.«
Bald darauf saßen alle vier bei Dragomira vor dem Kamin. Oksa machte sich ernsthaft Sorgen. Trotz der beruhigenden Worte ihrer Großmutter fragte sie sich, ob sie nicht doch für ihr unüberlegtes Handeln am Nachmittag zur Verantwortung gezogen werden sollte.
Dann ergriff ihr Vater das Wort: »Wir haben dein Zeugnis bekommen, meine Große, eine ganz hervorragende Leistung!«
»Einen herzlichen Glückwunsch für unsere Junge Huldvolle!«, riefen die Plemplems, die gerade ihren gebügelten Croque Monsieur verspeisten.
»Wir wundern uns nicht darüber«, fuhr Pavel Pollock fort. »Aber wir sind trotzdem sehr stolz auf dich. Die Einschätzungen deiner Lehrer sind alle ausgezeichnet, außer der von Mr McGraw. Und da muss ich dir sagen, dass wir sein Urteil nicht ganz nachvollziehen können. Du hast bei ihm nie eine schlechtere Note als eine Eins minus und da beschwert er sich über deine unleserliche Schrift? Das ist ziemlich unverständlich.«
»McGraw? Der spinnt doch, er ist ja nicht mal ein echter Lehrer. Er ist ein Psychopath«, rutschte es Oksa mit ihrer unheilvollen Spontaneität heraus.
»Ein Psychopath, so, so«, sagte ihre Mutter. »Tatsächlich macht seine Beurteilung einen etwas sonderbaren Eindruck. Aber wie kommst du darauf, dass er kein echter Lehrer ist?«
»Weil er eigentlich ein Geheimagent der CIA ist«, sagte Oksa und bereute ihre Antwort schon im nächsten Atemzug.
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Zuerst war ein amüsiertes Lächeln auf dem Gesicht von Oksas Mutter erschienen, doch es wich bald einem sorgenvollen Ausdruck. »Wie kommst du zu einer solchen Behauptung?«, fragte sie tonlos.
In diesem Augenblick wünschte sich Oksa nichts sehnlicher, als Milliarden von Kilometern von der Wohnung ihrer Großmutter entfernt zu sein. Warum hatte sie das nur gesagt? Die Gedanken fuhren in ihrem Kopf Karussell. Wenn sie ihre Theorie erklärte, musste sie alles von Anfang an erzählen – ab dem Moment, wo sie am ersten Schultag ohnmächtig geworden war, dann von dem Nichtfallen des Fläschchens, von dem Verdacht, den sie offenbar bei McGraw erregt hatte, von ihrer Befürchtung, McGraw wolle an ihr wissenschaftliche Experimente betreiben, bis hin zu den Beweisen, die Gus und sie zusammengetragen hatten. Und das hieße auch, vom Besuch in Bontempis Büro zu berichten, von der Levitation im Schulhof am helllichten Tag und vom Durchwühlen eines Portemonnaies, das ihr nicht gehörte. Damit konnte sie die Ferien bei Leomido abschreiben …
Also hörte sie sich ganz unbekümmert sagen: »Ach, das war nur so ein Scherz. Meine Freunde und ich denken uns gern solche Geschichten aus. Wir finden es einfach eine irre Vorstellung, dass McGraw ein Geheimagent sein könnte.«
Oksa hatte zwar ein sehr schlechtes Gewissen dabei, aber immerhin zeichnete sich die Erleichterung der drei Erwachsenen sofort deutlich auf ihren Gesichtern ab. Oksa atmete tief ein und setzte eine Unschuldsmiene auf.
»Du hast dich also wirklich gut benommen? Kein Magnetus, kein Knock-Bong, keine Flüge in der Öffentlichkeit? Na, was meinst du? Höre ich mich an wie eine echte Rette-sich-wer-kann?«, fragte ihre Mutter mit funkelnden Augen.
Oksa lächelte verlegen. Dieses Gespräch war aber auch eine Qual!
»Keine besonderen Vorkommnisse«, meldete Dragomira laut. »Abgesehen von einer Kleinigkeit: Gus weiß Bescheid. Aber das verschlägt uns nicht die Sprache, oder?«
Pavel und Marie Pollock gaben ihr zu Oksas großer Überraschung recht. Sie wussten es also!
»Und wie lautet nun unsere Entscheidung, was dieses junge Mädchen betrifft?«, fragte Dragomira und machte sich einen Spaß daraus, Oksa erneut auf die Folter zu spannen.
Pavel tat so,
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