Oksa Pollock. Die Unverhoffte
als wäre Oksa gar nicht da. »Du meinst wohl meine Tochter? Meine fantastische, überaus kluge und hochbegabte Tochter? Was meinst du, Marie? Das müssen wir uns noch in Ruhe überlegen, oder?«
»Papa …«, ächzte Oksa und rutschte unruhig in ihrem Sessel hin und her.
Marie ließ sich auf das Spielchen ihres Mannes ein. »Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, sagte sie. »Und ich verspreche, mich innerhalb des nächsten halben Jahres zu entscheiden.«
»Mama …«, ächzte Oksa noch lauter.
»Wir sind einverstanden, mein Schatz, du darfst in den Ferien zu Leomido«, erlöste ihr Vater sie. »Dragomira wird dich begleiten, weil wir im Restaurant viel zu tun haben. Aber ihr werdet einen Gast haben, jemanden, den du sehr gern magst und vor dem du, wie man hört, keine Geheimnisse hast.«
»Gus?«, fragte Oksa überglücklich. »Oh, danke Papa! Danke, Mama!«
»Wir müssen noch ein paar Kleinigkeiten mit Jeanne und Pierre Bellanger besprechen und dann könnt ihr in einer Woche alle drei nach Wales.«
»Super! Ich freue mich! Ach, ich freue mich ja so!«
Aufbruch nach Wales
D
ie Dreiergruppe blieb auf dem Flughafen nicht unbemerkt, im Gegenteil. Besonders die extravagante Dragomira fiel in ihrem aufsehenerregenden Reiseoutfit auf, einem purpurroten Anzug unter einem taillierten Mantel aus violettem Samt mit dazu passendem Hut. Sie zog einen riesigen Rollenkoffer aus braunem Leder hinter sich her und hielt ihre Schultertasche eng an sich gedrückt.
Wenige Stunden nach der Abreise aus London saßen alle drei in Leomidos prächtigem Salon vor dem Kamin, in dem ein großes Feuer prasselte. Leomido hatte sie mit dem Auto abgeholt und zu sich nach Hause gebracht, in etwa fünfzig Kilometer Entfernung vom Flughafen, mitten in Wales.
Er wohnte nicht in einem gewöhnlichen Haus, sondern in einer alten Kirche, die vier Jahrhunderte zuvor gebaut worden war und später als Kloster gedient hatte. Er hatte das Gebäude gekauft, bevor es zu einer Ruine verfiel, und hatte es in ein wunderschönes, sehr wohnliches Anwesen verwandelt, das mehr Ähnlichkeit mit einem Landsitz als mit einem religiösen Gebäude hatte, mal abgesehen von dem kleinen Friedhof auf der Rückseite des Hauses.
Es lag in einer der verschlungenen Buchten der Keltischen See, kilometerweit von irgendwelchen Nachbarn entfernt, und gut geschützt inmitten eines weiten, mit Heidekraut bewachsenen Hügellandes. Hinter dem letzten Hügel lag eine schmale Sandbucht. Oksa war schon zwei Jahre nicht mehr da gewesen, eine halbe Ewigkeit! Leomidos Anwesen mit seinem Teich, den welligen Hügeln und dem Wind, der durch das hohe Gras strich, kam ihr noch schöner vor als in ihrer Erinnerung.
»Dieser Ort ist sagenhaft schön. Leben Sie wirklich hier?«, fragte Gus begeistert.
Er warf bewundernde Blicke auf die Steinmauern, an denen zeitgenössische Gemälde hingen, und auf den riesigen schwarzen Kronleuchter, der von der Decke in den ungeheuer großen und hohen Raum hineinragte. Leomido, der es sich in einem großen Sessel aus abgewetztem Leder bequem gemacht hatte, lächelte.
»Ja, Gus, ich wohne wirklich hier. Seit meine geliebte Frau gestorben ist, vor zwölf Jahren. Es ist ein Ort, der mich friedlich stimmt, ich fühle mich hier frei und heiter.«
»Ist es Ihnen nicht zu einsam?«, fragte Gus weiter und sah ihn neugierig an. »Das Haus ist so riesig.«
»Zehn Zimmer und dazu dieser Raum, das ehemalige Kirchenschiff … Aber nein, ich fühle mich nicht einsam«, antwortete Leomido.
»Jedenfalls bin ich dir wirklich sehr dankbar, dass du mich ausbilden willst, Leomido«, sagte Oksa.
»Ach, das ist nicht nötig, meine liebe Oksa«, antwortete er. »Ich hoffe bloß, dass ich nicht allzu eingerostet bin. Es ist lange her, dass ich irgendjemanden ausgebildet habe. Sehr lange … Zuletzt in Edefia, ehrlich gesagt.«
Oksa und Gus spürten die große Wehmut in Leomidos Worten. Eine Weile blieb es still in dem großen Salon. Doch die beiden ließen Leomido deutlich merken, wie sehr sie darauf brannten, mehr zu erfahren.
Also fuhr er mit rauer Stimme fort: »Wie ihr wisst, sind Dragomira, Abakum und ich im Oktober 1952 von Edefia nach Sibirien katapultiert worden. Sofort begriffen wir, dass die Unterschiede zwischen Da-Drinnen und Da-Draußen viel größer waren als alles, was wir anhand von Maloranes Träumflügen erwartet hatten. Die ersten Monate waren unerträglich. Sibirien war zu hart für mich, in jeder Hinsicht. Ich sah meine kleine Schwester
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