Olfie Obermayer und der Ödipus
zum Haus von Axel. Es war fast Mitternacht, aber der Axel ist ein Nachtmensch. Manchmal liest er bis ins Morgengrauen hinein. Im Lauf der Jahre habe ich schon mehrmals mit ihm an seinem Fenster, das im Parterre ist, nächtliche Gespräche geführt. (Nur anrufen darf man bei ihm in der Nacht nicht, weil davon seine Eltern munter werden.)
Im Zimmer vom Axel brannte Licht. Ich stieg über den Zaun und schlich zum Fenster. Der Axel lag schnarchend
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im Bett. Seine Wange ruhte auf einem aufgeschlagenen Buch. Ich pfiff leise, der Axel hörte zu schnarchen auf. Ich pfiff noch einmal, der Axel drehte sich um, sein Kopf rutschte vom Buch, das Buch plumpste vom Bett, der Axel fuhr hoch und schaute sich verstört um.
»Ich bin's bloß«, sagte ich und kletterte ins Zimmer.
Der Axel gähnte und sagte vergrämt:
»Wenn du doch auf mein Angebot eingehen willst, hättest mir das auch morgen in der Schule sagen können. Ich habe gerade so rasant geträumt.« Er schwang die Beine aus dem Bett, nahm eine Zigarette vom Nachttisch, zündete sie an, blies Rauch aus, blinzelte und sagte:
»Aber jetzt, Bruder in Christo, kommt dir die Sache etwas teurer. Ich hab mir das überlegt. Meine erste Forderung war ein Einführungspreis. Die Chance hast verpaßt. Zwei Kinokarten pro Woche ist lächerlich, weil ich ja die Erbswurst auch einladen muß. Vier Karten mußt du springen lassen.
Und eine von deinen Janis Joplin-Platten rück raus.«
Am liebsten wäre ich, empört über so viel Raffgier, gleich wieder zum Fenster hinaus, doch ich unterdrückte meine Emotion und sagte heuchlerisch: »Okay, das überleg ich mir noch. Da sag ich dir morgen Bescheid.« Ich wollte den Knaben ja nicht verstimmen. »Jetzt«, fuhr ich fort, »bin ich wegen was anderem da. Du bist doch ein Oberwappler in der Psychologie!«
Der Axel nickte selbstgefällig.
»Ich hab da was Interessantes gelesen«, sagte ich. »Das versteh ich nicht. Da ist einer, der kann seinen Ödipus nicht abarbeiten, weil er keinen Vater hat. Und wird deswegen schwul!«
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Der Axel schaute mich, zugekniffenen rechten Auges, an.
Er ist halt wirklich ein Psycho-Oberwappler! Er nahm mir meine rein wissenschaftlichen Interessen nicht ab. Er merkte, wie der Hase lief. Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, blies Rauch aus, schaute ihm nach, wie er zur Zimmerdecke schwebte, und sprach:
»Mein Gutester, ist das nicht ein bißl viel verlangt, daß ich dir jetzt urplötzlich um Mitternacht deine Problematik er-kläre?«
Ich rechnete fast schon damit, daß er nun gleich mein neues Reinseidenhemd, meinen Plattenspieler und mein Sparbuch als Honorar fordern werde, aber er runzelte bloß die Stirn und fuhr fort: »Und wissenschaftlich kann ich einem Igno-ranten wie dir in Kürze gar nichts erklären. Die Materie ist schwierig!« Er deutete zum Bücherregal. »Dort steht der gesammelte Freud! Lies ihn, dann weißt alles! Aber da brauchst Jahre! Ich bin auch erst bei der Traumdeutung!«
»Mir genügt eine Null-acht-fünfzehn-Erklärung für den Anfang«, sagte ich.
Der Axel nahm rasch hintereinander ein paar Züge aus der Zigarette, drückte sie aus, schwang die Beine wieder ins Bett, zog die Decke bis zum Kinn und sagte: »Man arbeitet den Ödipus ab, indem man mit dem Vater um die Mutter kämpft, weil der Vater ja der Gegner und Nebenbuhler ist.
Und dadurch, daß das männliche Kind den Kampf mit einem Mann aufnimmt und ihn besteht, kriegt es seine männliche Identität!« Dann knipste der Axel die Nachttischlampe aus und murmelte:
»Gute Nacht!«
Ich sagte »Vergelt's Gott!« und ging zum Fenster. Als ich schon auf dem Fensterbrett hockte und mit den Füßen nach
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Boden unter mir suchte, murmelte der Axel noch: »Aber es gibt auch Analytiker, die scheißen auf den ganzen Ödipus-Schnödipus!«
Die Zäune entlang, diesmal an der Innenseite, tappte ich heimwärts. Im Blauen Salon brannte noch Licht. Im Zimmer meiner Mutter auch. Leise schlich ich ins Haus. Ich wollte von keinem Familienmitglied mehr belästigt werden.
Ich legte mich ins Bett, murmelte »Ödipus-Schnödipus«
und beschloß, ab morgen früh krank zu sein. Ich brauchte Zeit und Ruhe zum Nachdenken. Die finde ich immer am besten bei absoluter Bettruhe. Ein Schultag mit Erbswurstsuppe und Mathe-Schularbeit, sagte ich mir, würde mich vom Nachdenken zu sehr abhalten.
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4. Kapitel
das von meinen bettlägrigen Gedanken handelt und von Detektivarbeit berichtet, bei der die Intimsphäre meiner
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