Oliver Hell - Das zweite Kreuz
ausgestellten Särge schon eine unzumutbare Belastung.
Sie streiften sich einen weißen Schutzanzug über und zogen sich Überzieher an.
Seib war ebenfalls bleich im Gesicht. Beinahe so bleich wie der Anzug, den er ebenfalls trug. Er kam ihnen entgegen. Auf dem Blitzgerät seiner Spiegelreflex hatte er ein Stück weißen Karton als Diffusor geklebt, was den Blitz abmilderte und gegen die Decke richten sollte.
„ Ist Beisiegel schon da?“, fragte Hell.
„ Nein, sie hat heute frei. Ein Kollege ist drin“, sagte er. Sie drängelten sich zu dritt in dem engen Vorraum.
„ Wollen Sie auch rein“, fragte Seib an Franziska gewandt.
„ Ja“, antwortete sie kurz.
„ Sie müssen es wissen“, sagte er und ging nach draußen, „Ich muss erst mal frische Luft schnappen.“
Franziska suchte Hells Blick.
„ Du musst nicht.“
„ Schon gut.“
Zu zweit betraten sie den Ausstellungsraum mit den Särgen. Links und rechts standen jeweils vier Särge etwas erhöht. Hell blickte den Gang dazwischen entlang. Am Ende stand ein circa zwei Meter großes Holzkreuz.
An dem Kreuz hing ein Mensch. Dieses Kreuz war eigentlich viel zu klein für diesen perversen Zweck.
Er trug ein einfaches Totenhemd, was kaum seinen Intimbereich bedeckte. Der Kopf des Toten hing in einem unnatürlichen Winkel zum Rest des Körpers. Sein Gesicht war nur noch eine geschwollene Masse. An dem Kreuz hing Karsten Olbrichs. Kein Zweifel.
Die Arme des Toten waren mit einer Art Stacheldraht genau an den Ellenbogen an das Kreuz gefesselt. Sie hielten den Leichnam am Kreuz fest. Die Unterarme hingen nach vorne. Um seine Brust war ebenfalls ein solcher Draht gebunden. Tief schnitt das Metall in das Totenhemd und in das darunterliegende Fleisch. Seine Beine waren merkwürdig verdreht, nackte Füße. Beinahe wie auf einigen Christus-Darstellungen. Diese Stellung war auch der geringen Größe des Kreuzes geschuldet, verlieh der ganzen Erscheinung zusätzlich etwas Absurdes.
Hell biss sich auf die Lippen und hörte, wie Franziska neben ihm schluckte. Ihr Atem ging schwer.
Als wäre diese Szenerie nicht schon entsetzlich genug gewesen. Das Schlimmste war das viele Blut, was über den Toten, aber auch über die Särge und die Wand hinter dem Kreuz verspritzt war. In Schlieren lief es die Wand hinunter.
Die weißen Spitzenkissen in den beiden Särgen, die direkt neben dem Kreuz standen, waren von Blutspritzern nur so übersät.
„ Was ist hier passiert?“, fragte Franziska leise.
Gedämpft. Geschockt.
„ Ich habe keine Ahnung.“
Hell blieb wie angewurzelt stehen. Irgendetwas störte ihn. Was sehe ich, fragte er sich.
Der Körper des Toten war total weiß. Sicher, wenn er so viel Blut verloren hat, dann ist er vermutlich völlig ausgeblutet. Was Hell störte, war etwas anderes. Das Blut war überall verspritzt und es gab keine sichtbare Verletzung außer dem zerschlagenen Gesicht. Was das bedeutete, war klar.
Plötzlich hörte er einen weiteren Menschen neben sich schwer atmen.
Dr. Plasshöhler, der Vertreter von Dr. Beisiegel, stand neben ihnen.
Hell wandte sich dem Mediziner zu. Ein kurzer Gruß.
„ Können Sie schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“
„ Nicht länger als vierundzwanzig Stunden“, sagte Plasshöhler, „Es ist mal wieder typisch. Kaum habe ich Bereitschaft, dann haben wir es mit einem Psycho-Killer zu tun.
Franziska Leck schüttelte bestimmt den Kopf. „Das ist kein Psycho-Killer. Da hat sich jemand Mühe gegeben, es wie die Tat eines Geisteskranken aussehen zu lassen. Nein. Dafür ist es alles zu steril, zu akribisch. Das hier ist inszeniert“, sagte Franziska Leck.
„ Aha, wie kommen Sie darauf?“, fragte Plasshöhler etwas pikiert und beinahe schnippisch.
„ Entschuldigung, wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Dr. Franziska Leck, ich bin Psychologin.“ Sie reichte dem Arzt ihre Hand. Er machte eine entschuldigende Geste und verwies auf seine bereits benutzten Untersuchungshandschuhe. Franziska nickte nur.
„ Bist Du dir sicher?“, fragte Hell in Richtung seiner Begleiterin.
„ Ja, sagte sie. Ich habe Tatorte gesehen, wo richtige Psychopathen, wenn man sie so über einen Kamm scheren will, ihr Werk verübten. Das hier sieht anders aus. Kontrollierter. Es sieht eher so aus, als wäre es eine Bestrafung.“
„ Bestrafung“, wiederholte Hell wie ein Papagei.
Dr. Plasshöhler ging den Gang entlang und begann den Leichnam oberflächlich zu untersuchen.
„
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