Olympos
legte seinen schweren Rucksack an, hob die Ar m brust auf, ging zum Pavillon zurück, verabschiedete sich von den trop i schen Brisen und dem Rascheln der Palmwedel und gab den er s ten Code auf seiner Liste ein.
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Achilles hat den toten, aber perfekt erhaltenen Körper der Am a zone Penthesilea fast hundertvierzig Kilometer weit den Hang des Olympos hinaufgetragen, und er ist bereit, sie noch weitere zwe i hundert Kilometer zu tragen – oder fünfhundert oder fünfta u send, wenn es sein muss –, doch an diesem dritten Tag, irgendwo in knapp zwanzig Kilometer Höhe, verflücht i gen sich die Luft und die Wärme vollständig.
Drei Tage und Nächte, nur unterbrochen von kurzen Schlaf- und Ruhepausen, ist Achilles, Sohn des Peleus und der Göttin Thetis, Enkel des Aiakos, in der glasummantelten Röhre der zum Gipfel des Olymps führenden Rolltreppe nach oben g e stiegen. Obwohl der unterste Teil der Rolltreppe in den ersten Tagen der Kämpfe zwischen Hektors und Achilles ’ Truppen und den unsterblichen Göttern zerstört worden ist, hat sie ihre atembare Atmosphäre weitgehend beibehalten, und auch die Heizelemente funktioni e ren noch. Bis in eine Höhe von knapp zwanzig Kilometern hinauf. Bis hierher. Bis jetzt.
Hier hat ein Blitzstrahl oder eine Plasmawaffe die Rolltreppe n röhre vollständig durchtrennt und eine Lücke von einem halben Kilometer oder mehr gerissen, sodass die gläserne Rol l treppe auf dem roten vulkanischen Hang einer Schlange gleicht, die mit einer Hacke in zwei Hälften zerteilt worden ist. Achilles zwängt sich durch das Kraftfeld am offenen Ende der Röhre und überquert diese schreckliche freie Fläche. Er trägt seine Waffen, seinen Schild und Penthesileas Körper; der Leichnam der Amazone ist mit Pallas Athenes konservierendem Ambrosia gesalbt und in einstmals weißes Leintuch aus seinem Befehlszelt gehüllt. Doch als er die andere Seite erreicht – wegen des niedrigen Luftdrucks sind seine Lungen I kurz d a vor zu platzen, seine Augen brennen, und seine Ohren bluten, und seine Haut ist versengt von der brennenden Kälte –, sieht er, dass die Röhre noch auf Kilometer hinaus zerstört ist. Die Ruine zieht sich über den immer weiter zurückweichenden, gekrümmten Hang des O lymps nach oben; in ihrem Inneren gibt es weder Luft noch Wärme. Statt einer Treppe, die er emporsteigen kann, sieht Achilles nur noch eine Reihe ei n zelner Trümmerstücke aus g e zacktem Metall und verformtem Glas, so weit das Auge reicht. Luftlos, eisig kalt, bietet die Rol l treppe nicht einmal Schutz vor den heulenden Winden des Je t streams.
Fluchend und nach Luft ringend taumelt Achilles wieder den Hang hinunter, zwängt sich erneut durch das summende Kraf t feld an der Öffnung der Glasröhre und sinkt auf die Metallst u fen, wobei er seine eingepackte Last sanft niederlegt. Seine Haut ist wund und rissig von der Kälte – wie kann es so nah bei der Sonne so kalt sein?, fragt er sich. Der fußschnelle Achilles ist sicher, dass er höher hinaufgestiegen ist, als Ikarus flog, und das Wachs auf den Schwingen des Jungen, der ein Vogel sein wollte, war in der Wärme der Sonne geschmolzen. Oder nicht? Aber die Berggipfel im Land seiner Kindheit – Chirons Land, dem Land der Kenta u ren – waren kalte, windige, ungastliche Orte, wo die Luft immer dünner wurde, je höher man stieg. Achilles erkennt, dass er vom Olympos mehr erwartet hat.
Er nimmt einen Lederbeutel von seinem Umhang, holt einen kleinen Weinschlauch aus dem Beutel und spritzt sich den let z ten Rest Wein zwischen die ausgetrockneten und rissigen Li p pen. Vor zehn Stunden hat er den letzten Käse und das letzte Brot gege s sen, voller Zuversicht, dass er bald den Gipfel erre i chen würde. Aber der Olympos scheint keinen Gipfel zu haben.
Es kommt ihm vor, als wäre er schon monatelang unterwegs, als hätte er diese Reise nicht erst vor drei Tagen begonnen – an dem Tag, als er Penthesilea getötet hat, dem Tag, als sich das Loch g e schlossen und ihn von Troja, seinen Myrmidonen und Achäern getrennt hat. Nicht dass ihm das Verschwinden des Lochs etwas ausgemacht hätte, er wäre ohnehin nicht zur Ebene von Troja z u rückgekehrt, bevor Penthesilea nicht wieder zum Leben erwacht und seine Braut war. Aber er hatte diese Exped i tion nicht geplant. An jenem Morgen von drei Tagen, als Achi l les von seinem Zelt auf dem Schlachtfeld am Fuß des Olymps aufgebrochen war, ha t te er nur ein paar Brocken Nahrung in den Kampf gegen die
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