Olympos
bewusst, dass die Wände des Bruchs zu beiden Seiten viel höher wurden – das Meer war hier tiefer – und dass die Luft um ihn herum viel kühler war. Aber die Mittagssonne erreichte ihn immer noch. Mitten am Nac h mittag senkte Harman einmal den Blick und sah, dass seine Beine immer noch von oben bis unten schmutzig waren, grö ß tenteils von Blut, und er taumelte zur Südwand des Bruchs, langte mit bloßen Händen durch das Kraftfeld – seine Finger spürten den schrecklichen Druck und die Kälte – und schöpfte genug Salzwasser aus dem Meer, um sich zu säubern. Dann taumelte er weiter nach Westen.
Als sein Verstand schließlich doch wieder zu arbeiten begann, stellte er erfreut fest, dass seine Gedanken nicht nur der Obsz ö nität der Maschine und ihrer für den Planeten tödlichen Fracht galten, die jetzt hinter ihm außer Sicht verschwunden waren. Er begann, über sein Leben nachzudenken, über die ganzen hu n dert Jahre.
Zuerst waren Harmans Gedanken bitter – er machte sich Vorwürfe, dass er all diese Jahrzehnte mit Partys, Spielen und einer ziellosen Reihe von Faxreisen zu diesem oder jenem g e sellschaftlichen Ereignis vergeudet hatte –, aber bald vergab er sich. Es hatte auch gute Zeiten gegeben, echte Momente selbst inmitten dieses falschen Daseins, und das letzte Jahr wahrer Freundschaften, echter Liebe und ehrlichen Engagements hatte all die seichten Jahre zumindest teilweise wettgemacht.
Er dachte an seine Rolle in den Ereignissen des letzten Jahres und fand die Kraft, sich auch dafür zu vergeben. Die Nachme n schenfrau, die sich Moira nannte, hatte ihn damit aufgezogen, dass er Prometheus sei, aber Harman sah sich eher als eine Art Kombination von Adam und Eva, die die einzige verbotene Frucht in dem vollkommenen Garten der Trägheit ausfindig gemacht und seine Spezies für alle Zeit von diesem geistlosen, gesunden Ort verbannt hatte.
Was hatte er Ada, seinen Freunden, seiner Gattung dafür g e geben? Das Lesen? Auch wenn Lesen und Wissen für Harman von zentraler Bedeutung gewesen waren, so fragte er sich, ob diese eine Fähigkeit – potenziell so viel mächtiger als die hu n dert Funktionen, die jetzt in seinem Körper zum Leben erwac h ten – sie für all das entschädigen konnte, was vor ihnen lag: den Schrecken, den Schmerz, die Unsicherheit und den Tod.
Aber vielleicht würde das gar nicht mehr nötig sein.
Als der Abend den langen Himmelsschlitz hoch über ihm verdunkelte, stolperte Harman westwärts und begann, über den Tod nachzudenken. Sein eigener war nur noch Stunden entfernt, wie er wusste, vielleicht weniger, aber was war mit der Idee des T o des, der er und die Seinen sich bis zu den letzten Monaten nie hatten stellen müssen?
Er nahm sich die Zeit, sämtliche seit dem kristallenen Schrein in ihm gespeicherten Daten zu durchsuchen, und stellte fest, dass der Tod – die Angst vor dem Tod, die Hoffnung, den Tod zu überdauern, die Neugier in Bezug auf den Tod – der zentr a le Ansporn für so gut wie die gesamte Literatur und Religion der neun Jahrtausende in ihm gespeicherter Informationen g e wesen war. Die religiösen Teile verstand Harman nicht ganz; abgesehen von seiner momentanen Angst vor der Gegenwart des Todes verfügte er dazu über zu wenig Kontext. Er sah in tausend Kulturen über die Jahrtausende hinweg die Sehnsucht nach der Gewissheit, irgendeiner Gewissheit, dass das Leben weiterging, selbst nachdem es so offenkundig geflohen war. Er blinzelte, als sein Geist Vorstellungen vom Leben nach dem Tod durchging – Walhalla, Himmel, Hölle, das islamische P a radies, nach dem sich die Mannschaft des U-Boots hinter ihm derart gesehnt hatte, das Gefühl, ein tugendhaftes Leben g e führt zu haben und dadurch in den Gedanken und Erinneru n gen anderer weiterzuleben –, und dann sah er sich all die u n zähligen Versionen des Themas der Wiedergeburt in ein ird i sches Leben an, das Mandala, die Reinkarnation, die Neun Wu-Wege zum Zentrum. Für Harmans Herz und Verstand war das alles schön und so luftig und leer wie ein verlassenes Spinne n netz.
Während er westwärts in die kalten, dichter werdenden Schatten stolperte, erkannte Harman, dass seine Reaktionen auf jene menschliche Sichtweisen des Todes, die jetzt in seinen ste r benden Zellen und seiner DNA gespeichert waren, den literar i schen und anderen künstlerischen Versuchen galten, die menschliche Seite dieser Begegnung zum Ausdruck zu bringen – einer Art Trotz der Schöpferkraft. Harman sah sich
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