Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Olympos

Titel: Olympos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Schritte in die andere Richtung.
    Zwecklos. Dicke Wolken hingen tief über der Öffnung des Bruchs. Er hatte kein Gefühl für Osten oder Westen. Harman konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er womöglich zu dem U-Boot, in dessen Bauch all dieses Böse lag, zurücklaufen und die Wegstrecke zu Ada und nach Ardis, die er gestern so mühsam verringert hatte, nun wieder vergrößern würde.
    Er taumelte an die Wand des Bruchs – er wusste nicht mehr, ob es die Nordwand oder die Südwand war – und starrte in der sich langsam verdichtenden frühmorgendlichen Helligkeit sein Spiegelbild an.
    Ein Geschöpf, das nicht Harman war, erwiderte seinen Blick. Sein nackter Körper sah bereits wie ein Skelett aus. Unter der Haut hatte sich an vielen Stellen Blut gestaut – auf seinen eing e sunkenen Wangen, seiner Brust, unter der Haut seiner Unte r arme, an seinen zitternden Beinen, sogar am Unterleib hatte er einen riesigen Fleck. Als er erneut hustete, flogen zwei weitere Zähne heraus. Im Wasserspiegel sah es so aus, als hätte er bl u tige Tränen geweint. Wie in einem Versuch, sich zu säubern, strich er die Haare zur Seite.
    Einen langen, leeren Moment starrte Harman seine Faust an. Er hielt ein großes Büschel Haare darin. Es sah aus wie ein kle i nes, totes Pelztier. Er ließ das Büschel fallen und strich sich e r neut über den Kopf. Weitere Haare lösten sich. Harman schaute auf sein Spiegelbild und sah eine lebende Leiche, die bereits zu einem Drittel kahl war.
    Etwas Warmes berührte seinen Rücken.
    Er fuhr herum und wäre beinahe hingefallen.
    Es war die Sonne, die direkt in der Öffnung des Bruchs hinter ihm aufging. Die Sonne, die genau in der Rinne des Bruchs e m porkam, deren goldene Strahlen ihn in den paar Sekunden, b e vor die Wolken die orangefarbene Kugel verschluckten, in Wärme badeten. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne ausgerechnet an diesem Morgen unmittelbar über dem Bruch aufgehen würde – als wäre er ein Druide, der in Sto n ehenge auf den Sonnenaufgang der Tagundnachtgleiche wart e te?
    Harman war so schwindlig, dass er wusste, er würde verge s sen, in welcher Richtung die Sonne aufgegangen war, wenn er nicht sofort handelte. Er kehrte der Wärme den Rücken zu und begann, wieder nach Westen zu taumeln.
     
    Gegen Mittag – die Wolken teilten sich zwischen Regenscha u ern und ließen hin und wieder einen Sonnenstrahl durch – füh l te sich Harmans Geist nicht mehr mit seinem dahintaumelnden Körper verbunden. Harman machte doppelt so viele Schritte wie nötig, taumelte von der Nordwand des Bruchs zur Sü d wand und musste die Hände leicht an das summende, kri b belnde Kraftfeld legen, um sich wieder in Bewegung zu setzen und die endlose Rinne entlangzustolpern.
    Unterwegs fragte er sich, wie wohl die Zukunft für sein Volk aussah – oder ausgesehen hätte. Nicht nur für die Überlebe n den von Ardis, sondern für alle Altmenschen, die die bösart i gen Voynix-Angriffe möglicherweise überstanden hatten. Jetzt, da die alte Welt endgültig untergegangen war: Welche Form der staatlichen Ordnung, der Religion, der Gesellschaft, Kultur und Politik hätten sie wohl geschaffen?
    Ein Proteinspeichermodul, das tief in Harmans kodierter DNA saß – eine Erinnerung, die erst lange, nachdem die mei s ten anderen Zellen in Harmans Körper gestorben und zerfallen waren, sterben würde –, bot ihm folgendes Fragment aus A n tonio Gramscis Gefängnisnotizen an: »Die Krise besteht genau in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Zwischenreich treten eine Vielzahl morbider Symptome hervor.«
    Harman lachte laut, und dieses eine bellende Lachen kostete ihn einen weiteren Schneidezahn. Morbide Symptome, in der Tat. Eine ganz kurze Kontext-Überprüfung dieses Fragments zeigte Harman, dass dieser Gramsci ein Intellektueller gewesen war, der sich für die Revolution, den Sozialismus und Komm u nismus eingesetzt hatte – die letzten beiden Theorien waren schon vor der Mitte des Untergegangenen Zeitalters gestorben und verfault; man hatte sie als den naiven Unsinn aufgegeben, der sie waren –, aber das Problem der Zwischenreiche war zweifellos bestehen geblieben, und hier war es nun wieder.
    Er erkannte, dass Ada in den Wochen und Monaten, bevor er so dumm gewesen war, seine schwangere Geliebte zu verla s sen, die Ardis-Bewohner auf den Weg zu einer Art primitiver athenischer Demokratie geführt hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen,

Weitere Kostenlose Bücher