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Olympos

Titel: Olympos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gespe i cherte Bilder der letzten Selbstporträts von Rembrandt an, und die schreckliche Weisheit in diesem Gesicht rührte ihn zu Tr ä nen. Er hörte seiner eigenen inneren Stimme zu, die jedes Wort der vollständigen Version von Hamlet vorlas, und erkannte – wie so viele Generationen vor ihm –, dass dieser alternde Prinz in Schwarz vielleicht der einzige wahre Botschafter aus dem unentdeckten Land war.
    Harman merkte, dass er weinte. Nicht um sich selbst oder wegen seines unmittelbar bevorstehenden Ablebens – nicht einmal über den Verlust Adas und seines ungeborenen Kindes, die in seinen Gedanken trotz allem immer präsent gewesen w a ren –, sondern einfach deshalb, weil er nie die Chance gehabt hatte, eine Aufführung eines Shakespeare-Stücks zu sehen. Wenn er gesund und munter nach Ardis zurückgekehrt wäre und nicht als dieses blutende, sterbende Skelett, hätte er darauf bestanden, dass die Gemeinschaft eines von Shakespeares Th e aterstücken aufführte – sofern es ihnen gelang, die Voynixe zu überleben.
    Aber welches?
    Diese interessante Frage lenkte Harman eine Weile ab, und so entging ihm, wie die Farben der Abenddämmerung am Hi m mel über ihm immer tiefer wurden, bis der Himmelsausschnitt nur noch Sternenfelder und Ringbewegung zeigte, und er merkte auch nicht sofort, wie die Kälte in dem tiefen Graben, in dem er westwärts taumelte, erst in seine Haut, dann in sein Fleisch und schließlich in seine Knochen sickerte.
    Irgendwann konnte er nicht mehr weiter. Er stolperte immer wieder über Steine und andere Dinge, die er nicht sah. Er sah nicht einmal, wo die Wände des Bruchs begannen. Alles war schrecklich kalt und stockfinster – ein Vorgeschmack auf den Tod.
    Harman wollte nicht sterben. Noch nicht. Nicht jetzt. Er rollte sich auf dem sandigen Boden des Bruchs wie ein Fötus zusa m men. Das Gefühl, wie der Kies und der Sand seine Haut wund scheuerten, bewies ihm, dass er in Wirklichkeit noch am Leben war. Mit klappernden Zähnen schlang er die Arme um den Leib, zog die Knie noch mehr an und umarmte auch sie. Sein Körper zitterte, aber er war beruhigt, dass er noch lebte. Er dachte sogar sehnsüchtig an den Rucksack, den er so weit hi n ter sich gelassen hatte, an den Thermodecken-Schlafsack darin und an seine Kleider. Vor seinem geistigen Auge tauchten s o gar die Nahrungsriegel auf, die er im Rucksack gelassen hatte, aber sein Magen wollte nichts von ihnen wissen.
    Während der Nacht musste Harman mehrmals von dem Nest im Sand wegkriechen, das er mit seinem zusammengerollten Körper geschaffen hatte. Zitternd lag er auf Händen und Knien und würgte wieder und wieder – aber es war nur ein trockenes Würgen. Alles, was er gestern noch im Magen gehabt hatte, war längst fort. Dann kroch er langsam und mühselig zurück zu seiner kleinen fötusförmigen Kuhle im Sand, voller Vorfreude auf die leichte Wärme, die er wieder finden würde, wenn er sich dort zusammenrollte, so wie er sich früher vielleicht auf eine köstliche Mahlzeit gefreut hätte.
    Welches Stück? Das erste, das er je gelesen hatte, war Romeo und Julia gewesen, und aus diesem Grund liebte er es. Jetzt ha t te er sich König Lear angesehen – nie, nie, nie, nie, nie – und fand es absolut passend für einen Sterbenden wie ihn, selbst für e i nen, der nicht lange genug gelebt hatte, um seinen Sohn oder seine Tochter zu sehen, aber die Ardis-Familie würde es als er s te Begegnung mit Shakespeare vielleicht doch ein wenig übe r fordern. Da die Schauspieler aus ihren eigenen Reihen kommen mussten, fragte er sich, wer von ihnen überhaupt den alten Lear spielen konnte … Odysseus-Noman war das einzige Gesicht, das ihm richtig erschien. Er fragte sich, wie es Noman jetzt ging.
    Harman drehte das Gesicht nach oben und betrachtete die Ringe, die sich vor den Sternen drehten, eine Schönheit, die er noch nie so sehr zu schätzen gewusst hatte wie in dieser schrecklichen Nacht. Ein heller Streifen – heller als die übrigen Ringsterne zusammen –, ein deutlicher Kratzer auf schwarzem Onyx, zog über den P-Ring hinweg und schob sich zwischen die echten Sterne, bevor er hinter der Bruchwand auf der Sü d seite verschwand. Harman hatte keine Ahnung, was das war – für einen Meteoriten hatte es viel zu lange gedauert –, aber er wusste, es war so ungeheuer weit weg, dass es nichts mit ihm zu tun haben konnte.
    Während er an den Tod und an Shakespeare dachte, noch immer unschlüssig, welches Stück er zuerst inszenieren

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