Oma klopft im Kreml an
schon verstehen. Und bringen Sie den jungen Mann heute zum Essen mit. Diesen Großneffen. Ein Uhr fünfzehn, und kommen Sie nicht zu spät. Machen Sie die Tür richtig zu, wenn Sie rausgehen. Es zieht in diesem Haus wie verrückt.»
Dann setzte sich der Botschafter an seinem Schreibtisch zurecht, kritzelte mit roter Tinte «Unsinn» über den Bericht des Vizekonsuls und begann, seine eigenen präzisen und klaren Bemerkungen zu dem Fall auf einem neuen Bogen niederzuschreiben.
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Auf den diplomatischen Cocktailparties hatte inzwischen der Fall Baker alle andern Unterhaltungsthemen - das Wetter, das Ballett, die Schwierigkeiten, Hausangestellte zu finden, die kommende Ernte, die Knappheit von Mähdreschern, den Fünf jahresplan, die Entwicklungen im Mittleren Osten und die Situation in Polen - verdrängt.
Er faszinierte alle. Die Damen waren mehr von der menschlichen Seite angetan und versetzten sich genußvoll in die hoffnungslose Lage der armen alten Dame, die, der Landessprache nicht mächtig, irgendwo in einem russischen Dorf gestrandet war oder in einem russischen Gefängnis schmachtete. Oder sie wunderten sich über den Spleen einer Frau, die mit siebzig noch ein neues Leben in der kommunistischen Welt beginnen wollte.
Ihre Männer beschäftigten sich dagegen mehr mit den politischen Aspekten des Falles und versuchten, seine Bedeutung, die Reaktionen auf Miss Bakers Verschwinden und die Hintergründe der ganzen Affäre zu durchleuchten. Sämtliche Interpretationen waren äußerst subtil, kenntnisreich und natürlich völlig falsch. Und sie wurden alle nach London telegrafiert und erschienen auf den ersten Seiten sämtlicher Zeitungen. Die Blätter, die nicht ständig in Moskau vertreten waren, schickten Sonderkorrespondenten, die über die Meinungen der «informierten Kreise» berichten sollten.
Da keine Möglichkeit bestand, sensationelle neue Entwicklungen zu melden (die Britische Botschaft wie das sowjetische Außenministerium weigerten sich standhaft, einen offiziellen Kommentar zu geben, und Miss Baker, die friedlich nähend auf Jackies sonnigem Balkon saß, wurde dazu nicht aufgefordert), überschlugen sich die Journalisten fast beim Erfinden einleuchtender Hypothesen, die Miss Bakers Verschwinden erklären sollten.
Jeden Abend wurden ganze Bündel von Telegrammen nach London geschickt, die über die neuesten Spekulationen berichteten, und jeden Morgen prangten die widersprüchlichsten Schlagzeilen in den Londoner Zeitungen. «Miss Baker - eine britische Spionin?» (populäres Boulevardblatt) - «Miss Baker - eine Kommunistin?» (seriöses konservatives Blatt).
Der Daily Worker ließ sogar Zweifel laut werden, ob es sich bei Miss Baker überhaupt um eine Frau handele. Sie könne ohne weiteres ein prominenter Agent der Abwehr sein, der sich, als siebzigjährige Oma verkleidet, nach Rußland eingeschleust habe.
Die Zeitungskampagne hatte ihren Höhepunkt erreicht, als die Delegation der Antifaschistischen Friedensliga nach einer ereignislosen Tour durch die Satellitenstaaten wieder in England eintraf.
Seit Tagen hatten sich die Journalisten redlich abgemüht, hatten die trivialsten Meldungen aus zweiter Hand gierig aufgegriffen und sie mit Erfindungsgabe und mit Hilfe von riesigen Zwischentiteln zu drei- und vierspaltigen Artikeln ausgewalzt. Nun gab ihnen die Ankunft der Delegation die einmalige Gelegenheit, Konkretes über Miss Bakers Aussehen, ihren Charakter und ihr Benehmen zu erfahren.
Die Delegation wurde am Londoner Flughafen sofort von Reportern umringt. Da keines Ihrer Mitglieder während der letzten Wochen eine englische Zeitung in die Hand bekommen hatte, traf dieser Überfall alle völlig unvorbereitet.
Sir William Finch war zunächst verblüfft, dann aber hocherfreut, als er sich so im Mittelpunkt des Interesses fand. Aber sein Entzücken verwandelte sich sehr schnell in Enttäuschung, als ihm klar wurde, daß Miss Baker, die er inzwischen fast vergessen hatte, die Delegation immer noch wie ein Gespenst verfolgte.
«Das ist sehr unangenehm, wirklich sehr unangenehm», konnte er einfügen, als den Reportern bei ihren Fragen einen Augenblick der Atem ausging. «Es tut mir sehr leid zu hören, daß die arme alte Dame ver-; schwunden ist. Natürlich erinnere ich mich vage an sie. Aber ich muß darauf hinweisen, daß sie niemals ein Mitglied unserer Delegation war und bei unserer eminent wichtigen Mission überhaupt keine Rolle gespielt hat. Sie drängte sich uns in Wilna auf
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