Oma packt aus
brachte mich dann nach Hamburg zurück. Von den Wochen danach weiß ich nicht mehr viel. Ich befand mich in einer Art Dämmerzustand. Meine Freundin hat mir die Milch abgepumpt und mich gefüttert wie ein kleines Kind. Später hat sie mir geholfen, wieder auf die Beine zu kommen.«
Sie erzählte, wie sie eine Hotelfachschule besuchte, und ich musste daran denken, dass ich mich viele Jahre später ebenfalls über diese Schule informiert hatte. Allerdings war mir Hamburg nicht weit genug weg von Nordergellersen gewesen, und ich hatte mich schließlich für München entschieden.
»Nach und nach habe ich mir ein eigenes Leben aufgebaut, und sobald ich es mir leisten konnte, habe ich einen Privatdetektiv engagiert, der mich regelmäßig über dich auf dem Laufenden gehalten hat.«
Ich dachte automatisch an den Kerl in München, der mir seinen Beruf nicht hatte verraten wollen.
So ’n Schiet aber auch.
Irene legte eine Pause ein, und ich stellte die Frage, die mir am meisten auf der Zunge brannte. »Und du hast nie wieder etwas von meinem Vater gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich habe nicht nach ihm gesucht. Dieses Kapitel war ein für alle Mal für mich abgeschlossen. Mit einem Verbrecher wollte ich nichts mehr zu tun haben.«
Die alte Traurigkeit in ihrem Blick sagte etwas anderes, aber ich ging nicht näher darauf ein. Ihre Gefühle für Marcello waren ihre Privatsache.
Schweigen entstand, während die Sonne hinter den Baumwipfeln unterging.
»Lass uns heimgehen«, sagte ich endlich.
Irene nickte. Wortlos kehrten wir zum Hof zurück und sahen Rüdiger, der vor dem Küchenfenster Position bezogen hatte. Also wussten wir, wo die Familie war.
In der Diele strömte mir der Duft von Frikadellen in die Nase.
Aber nur für eine halbe Sekunde.
Dann roch das gebratene Hackfleisch mit Ei, Zwiebeln und altbackenen Brötchen plötzlich nach Makkaroni mit Tomatensoße.
Mir wurde ein bisschen schlecht.
Als wir eintraten, erstarb das Gespräch in der Küche. Papa, Mama, Grete und Marie sahen uns entgegen.
Wir erwarten eine Erklärung, sagten ihre Blicke.
Grete häufte mir den Teller voll. Ich starrte auf den Berg Kartoffelpüree und die drei Frikadellen. Mein Magen hob sich.
»Gibt’s auch Parmesan?«
Alle starrten mich an. Papa griff nach hinten in den Küchenschrank und holte die Flasche Doppelkorn heraus.
»Ich hätte lieber einen Grappa«, murmelte ich.
Grete tippte sich gegen die Stirn. »Völlig plemplem.«
Papa reichte mir ein Glas Köm. Ich kippte es hinunter. Danach ging’s mir ein bisschen besser, und ich hörte zu, wie Irene ihre Geschichte zum zweiten Mal erzählte.
»Da wäre mir ein Zigeunerbalg ja fast lieber gewesen«, meinte Grete, als sie geendet hatte. »Jetzt haben wir einen Mafiasprössling in der Familie.«
Papas strafenden Blick übersah sie. Marie lächelte mir zu. Ob Halbitalienerin oder Halbzigeunerin – du bist du, sagten ihre Augen.
Mama verdrückte eine Träne. »Ein rassiger Italiener! Hast du ein Glück, Irene.«
Papas Blick wurde eine Nuance dunkler.
»Wobei ich persönlich mehr auf den klassischen Nordmann stehe«, ergänzte Mama schnell.
Irene sagte gar nichts mehr. Zweimal die eigene unglückliche Geschichte erzählen, das zehrte.
»Also gut«, brummte schließlich Grete. »Nun wissen wir alles, dann willst du bestimmt wieder nach Hause fahren, Irene. Ich helfe dir beim Kofferpacken, dann kannst du gleich nach dem Essen aufbrechen.« Oma hatte es wirklich eilig, den ungebetenen Gast wieder loszuwerden.
»Ich will nach Italien fahren«, sagte jemand. Überrascht schaute ich mich in der Runde um. Erst dann merkte ich, dass ich selbst gesprochen hatte.
Papa schenkte nach. Auch die anderen bekamen ein volles Glas Köm.
»Nach Italien«, murmelte Mama. Ich bemerkte, wie sie einen langen Blick mit Papa tauschte. Die beiden waren sich ohne Worte einig.
»Ihr müsst euch keine Sorgen machen«, sagte ich schnell. Der Köm breitete sich wohlig in meinem Inneren aus. Auf einmal war ich fest entschlossen. Bevor ich meine Zukunft beginnen konnte, musste ich auch den Teil meiner Vergangenheit kennen, der mir fremd war, und mit ihm abschließen. »Ich möchte nur meinen Vater treffen. Einmal sehen, wie es dort aussieht, und meine italienischen Verwandten kennenlernen. Und ich will wissen, ob er wirklich ein Verbrecher ist. Aber ihr werdet immer meine Eltern bleiben. Ich liebe euch.«
Papa gab ein merkwürdiges Geräusch von sich. Es klang wie ein Schluchzen,
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