Omega
die Freude erfahren, die ihn begleitete.
Vage war sie sich der Leute bewusst, die noch immer in den Park strömten, aber wie groß die Menge inzwischen geworden war, vermochte sie nicht zu sagen. Und es kümmerte sie auch nicht.
Und dann zerstörte eine Stimme die hehre Stimmung: »O Göttin, warum bist du zu deinen Dienern gekommen?« Die Stimme war männlich und sprach mit einem seltsamen Akzent. Sie war verärgert, dass sich tatsächlich jemand zu sprechen erdreistete, und sie glaubte, die Stimme schon einmal gehört zu haben.
Das Licht veränderte sich kaum merklich, und Macao sah, dass die Bluse der Göttin zerrissen, die Hose zerfetzt war. Und auf ihrer rechten Wange war ein schmieriger Fleck, der verdächtig nach Blut aussah.
Lykonda nahm die Fackel in die linke Hand und fing an, mit der rechten zu winken.
»Hört meine Worte«, sagte sie. »Ein großer Sturm zieht auf. Ihr habt ihn seit Monaten kommen sehen. Wir haben uns ihm entgegengestellt, haben versucht, ihn zu zähmen, und wir haben seine Macht geschwächt. Aber wisset, dass auch wir ihn nicht zur Gänze bezwingen konnten. Ihr müsst nun selbst für eure Sicherheit Sorge tragen.«
Bewegung kam in die Menge. Jemand fing an zu schluchzen. Klagende Rufe erklangen.
»Die Wasser werden steigen und das Land erobern.«
Mehr Gejammer.
»Nehmt eure Familien und eure Freunde und sucht in den Bergen Zuflucht. Ihr müsst keine Furcht haben. Noch ist genug Zeit, aber ihr müsst die Stadt schnell verlassen. Dies ist eure letzte Nacht, ehe der Sturm über euch hereinbrechen wird. Bleibt der Stadt fern, bis die Gefahr vorüber ist. Nehmt Nahrung für sechs Tage mit euch.«
»Göttin.« Wieder die Stimme mit dem merkwürdigen Akzent. »Viele von uns sind alt und schwach und können die Wanderung, die du von uns verlangst, nicht antreten.« Macao konnte den Sprecher nicht sehen, aber sie kannte die Stimme.
»Seid guten Mutes. Ihr werdet mich nicht sehen, aber ich werde mit euch sein.«
Das Wimmern wich lauten Dankesbezeugungen.
Und dann, von einem Moment auf den anderen, erlosch das Licht, und Lykonda war verschwunden.
In Brackel half Parsy, der Bibliothekar, seiner Kirma, seinen Mit-Ehemännern, ihre 22 Gattinnen in Sicherheit zu bringen. Er hatte das Auftauchen der Göttin gesehen, die Verblüffung gespürt. Wer hätte gedacht, dass so etwas tatsächlich passieren konnte? Aber Parsy war ohne Zweifel ein vernünftiger Mann. Er brauchte keine zweite Aufforderung, nachdem er ihre Worte vernommen hatte.
Bis zu diesem Abend hatte er, wenn er auch annahm, die Götter würden irgendwo existieren, sie würden die Sterne in Bewegung halten, die Jahreszeiten wechseln und die Ernte einbringen, nie viel über sie nachgedacht. Für ihn waren sie nicht viel mehr gewesen als Figuren, die dann und wann in einem Schauspiel auftauchten, um Rat zu erteilen und die Handlung voranzutreiben oder eine dringend benötigte Lektion zu erteilen. In Zukunft würde er vorsichtiger sein. Wie viele Jahre ihm auch noch vergönnt waren, er würde die Götter und ihre Taten ehren und den Weg der Rechtschaffenheit gehen.
Er stand auf einer Hügelkuppe in Sichtweite von Brackel. Die Straßen zwischen der Stadt und den Bergen waren schmal und von seinen fliehenden Mitbürgern verstopft. Die Dämmerung nahte, aber er nahm nicht an, dass er die Sonne zu sehen bekommen würde. Es hatte zwar endlich aufgehört zu regnen, aber es war kalt geworden. Die Kinder waren in Felle eingewickelt, und auf sie alle wartete ein langer, anstrengender Tag. Aber sie würden es überstehen. Wie sollte es auch anders kommen, wenn doch Lykonda mit ihnen war?
Die Vorzeichen der Gefahr waren überall erkennbar: Der Wind lebte auf, die Flut stieg ungewohnt hoch, und die Flüsse traten über die Ufer. Parsy hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass Vernunft bedeutete, immer das Schlimmste anzunehmen, und dass er selten überrascht oder gar enttäuscht werden konnte, solange er sich daran hielt. Also hatte er seiner Familie gesagt, sie solle alles einpacken, was sie tragen könne. Sich auf den Sturm auf die Gipfel vorbereiten. Und hinaufsteigen. Gleich wie ermüdend die Kletterei auch sein mochte.
Nun war der Weg geschafft, und er hatte sie alle, soweit es ihm nur möglich war, in Sicherheit gebracht. Also war es an der Zeit, sich um seine zweite Pflicht zu kümmern. »Wer kommt mit mir?«, fragte er.
»Lass sie dort«, sagte Kasha, seine Lieblingsfrau, die Frau, mit der er seine intimsten Gedanken teilte.
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