Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
gehörten zur Kultur der Insel. Einen Geheimbund, der mit dem Etikett »Mafia« versehen werden könnte, gebe es nicht. Die Ergebnisse neuerer Gerichtsverfahren in den späten sechziger Jahren schienen seine Ansicht zu bestätigen. 1992 jedoch war dieser Irrtum endgültig aus dem Weg geräumt: Es gab Beweise, die sogar den Obersten Gerichtshof in Italien zu der Überzeugung brachten, dass die sizilianische Mafia in der Tat eine kriminelle Organisation, ein Geheimbund war. Am Ende des längsten Jahrzehnts in Sizilien war das erstaunlichste Verbrechen der sizilianischen Mafia – die Behauptung, es gebe sie nicht – endlich entlarvt.
Die Jahre des Blutvergießens und der Polemik in Palermo, die zu diesem entscheidenden Urteil des Obersten Gerichtshofs geführt hatten, sollten sich auf die Camorra, die ’Ndrangheta und auf Italiens gesamtes kriminelles Machtsystem auswirken. Mit einem Mal führte Italien Institutionen ein, die dem grundlegenden Bedürfnis Rechnung trugen, die italienische Unterwelt mitsamt ihren Verbindungen zur »oberen Welt« von Politik, Verwaltung und Wirtschaft
als Einheit
zu betrachten. Endlich, nach über 100 Jahren, wurden die Mafias als verschiedene Aspekte derselben grundlegenden Probleme angesehen.
Es sind fraglos tiefgreifende Veränderungen – tiefgreifend genug, um die langen Achtziger als blutigen Übergang zwischen zwei völlig unterschiedlichen Epochen in der Mafiageschichte zu kennzeichnen. Doch wird es noch eine Weile dauern, ehe wir sagen können, ob der Fortschritt, der einen so hohen Preis forderte, unwiderruflich ist. Aus diesem Grund muss der Titanenkampf zwischen Mafia und Antimafia jener Jahre immer wieder aufs Neue erzählt werden. Denn er wird seine Relevanz und Notwendigkeit erst dann verlieren, wenn die Mafias in Italien endgültig besiegt worden sind.
Siziliens längstes Jahrzehnt begann mit fünf hochkarätigen Morden, sogenannten »prominenten Leichen«, im Zeitraum von neun Monaten.
Am 26 . Januar 1979 wurde Mario Francese vor seinem Haus in Palermo mit einem Kopfschuss getötet. Francese war für die Verbrechensrubrik in Siziliens größter Tageszeitung zuständig gewesen, dem
Giornale di Sicilia
. Neben ihm stand sein 20 -jähriger Sohn Giulio, der erst wenige Wochen zuvor ebenfalls eine Journalistenlaufbahn begonnen hatte.
Sechs Wochen später, am 9 . März, starb Michele Reina, der Anführer der christdemokratischen Partei in der Provinz Palermo, in einem Kugelhagel aus einem Dum-Dum-Geschoss am Steuer seines Wagens. Seine Frau saß neben ihm und sah den Killer grinsen, während er schoss. Reina war der erste Nachkriegspolitiker, der von der sizilianischen Mafia ermordet worden war; er hinterließ drei kleine Kinder.
Der dritte Mord geschah am 11 . Juli im Norden des Landes, im Mailänder Bankenviertel. Der Rechtsanwalt Giorgio Ambrosoli hatte den Auftrag, sich näher mit den Angelegenheiten des in Ungnade gefallenen sizilianischen Bankiers Michele Sindona zu beschäftigen. Ein dreiköpfiges Killerteam lauerte auf Ambrosoli, als er spät abends nach Hause kam; auch er hinterließ eine Frau und drei kleine Kinder.
Zehn Tage später wurde in Palermo Boris Giuliano, der Kommandant einer Ermittlungseinheit in Zivil, an der Theke seiner Stammkneipe mit sieben Schüssen niedergestreckt.
Cesare Terranova war Richter. Am 25 . September wurde er mitsamt seinem Leibwächter Lenin Mancuso in seinem Wagen erschossen. Ein Zeuge sagte aus, die Killer hätten dabei gegrinst.
Ein Journalist, ein Politiker, ein Finanzanwalt, ein Polizist und ein Richter. Medien, Demokratie, Finanzwesen, Strafverfolgung und Justiz. Die grinsenden Killer der Mafia hatten nacheinander fünf Säulen der italienischen Gesellschaft angegriffen.
Keiner dieser Morde war für sich genommen beispiellos für die sizilianische Mafia. Doch so kurz aufeinander offenbarten sie einen unverwechselbaren und erschreckenden neuen Trend. Sizilianische Mafiosi hatten die Vertreter des Staates noch nie dermaßen systematisch angegriffen. Die Institutionen wurden unterwandert und bestochen, aber sie wurden nie frontal attackiert. Jetzt hatte die Mafia plötzlich einen terroristischen Weg eingeschlagen.
Viele Kommentatoren während der terroristischen Jahre, bekannt als »bleierne Zeit«, zogen Vergleiche zwischen der Mafia und der terroristischen Bedrohung. Die Cosa Nostra selbst hatte ihnen die Worte in den Mund gelegt. Nach den Morden an Reina und Terranova hatte die Redaktion des
Giornale di
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