Ondragon: Nullpunkt: Mystery-Thriller (German Edition)
vermutlich, weil es für eine rasche Reise mit dem Zug zu sperrig war. Das ist im Übrigen gängige Praxis. Kann also sein, dass der Koffer noch einige Tage im Hotel herumgestanden hat, bevor er mit dem nächsten Zug aufgegeben wurde.“
„Der Koffer ist aber nicht aufgegeben worden, er ist immer noch hier“, sagte Herkimer und sah ihn ernst an.
„Er ist noch hier …“, wiederholte Philemon, weil ihm nichts Besseres einfiel. Aber woher wusste der Blonde eigentlich, was es mit dem Koffer auf sich hatte? Sein Misstrauen wuchs. Klar, der Kerl hatte behauptet, er arbeite als Telegraphist bei der Eisenbahngesellschaft, da wusste er natürlich, was über das Kabel depeschiert wurde, aber was, wenn er log? Philemon blieb auf der Hut. „Vielleicht sind keine wichtigen Sachen im Koffer gewesen und es gab keine Eile, ihn hinterherzuschicken“, entgegnete er ruhig.
„Das Ding steht aber in einer Abstellkammer oben im Ostflügel des Hotels. Denken Sie, dass es üblich ist, Gepäck dort zu lagern, das eigentlich weitergeschickt werden soll? Es hat bereits drei Züge in Richtung Osten gegeben, mit denen der Koffer hätte transportiert werden können. Es existiert aber keinerlei Anweisung dafür.“
Allmählich ging ihm der Kerl mit seinen Verschwörungstheorien auf die Nerven. Mit einem ironischem Unterton erwiderte Philemon: „Keine Ahnung, wie derlei Dinge hier in Colorado Springs gehandhabt werden. Ist mir, ehrlich gesagt, auch egal. Ich kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten, und das sollten Sie besser auch tun, Mr. Herkimer. Wenn Sie gestatten, würde ich mich jetzt gerne in mein Hotel begeben.“
„Wie Sie wollen, Phil. Ich hatte nicht die Absicht, Sie in irgendeiner Weise zu brüskieren. Ich wollte Ihnen bloß mitteilen, dass die Dinge manchmal nicht so sind, wie sie vielleicht zu sein scheinen. Denken Sie darüber nach.“
Philemon schluckte eine weitere Bemerkung herunter. Es brachte nichts ein, sich mit diesem Kerl herumzuärgern. Er verstand nicht das Geringste von der Großartigkeit Nikola Teslas und dessen fabelhafter Forschung. „Auf Wiedersehen, Mr. Herkimer“, sagte Philemon höflich und tippte an den Hut. „Ich wünsche einen angenehmen Abend.“
„Glauben Sie mir, Mr. Ailey, auch Sie werden Ihre Meinung über Dr. Tesla noch ändern!“
„Das glaube ich kaum“, gab Philemon zurück.
„Je nun, so sei es. Aber vergessen Sie nicht: Sollten Sie Probleme haben, nicht verzagen, Herkimer fragen!“
Philemon schnaubte verächtlich, während er seinen Weg fortsetzte und dabei starr nach vorne auf die Straße schaute. Wenig später erreichte er das Hotel und war wegen seines raschen Schrittes durchgeschwitzter, als ihm lieb war. Zudem geisterte neben Löwensteins Worten nun auch noch dieser vermaledeite Koffer durch seine Gedanken. Das war zu viel der Ungereimtheiten, und Philemon befürchtete, dass sie ihm keine Ruhe lassen würden. Natürlich konnte es sein, dass der Koffer in der Abstellkammer gar nicht der von Mr. Myers war, sondern alles nur eine Verwechselung. Vielleicht aber auch nicht. Ein Blick auf das Namensschild würde da leicht Aufklärung bringen. Philemon beschloss, in einer der kommenden Nächte heimlich auf den Speicher zu schleichen und nachzusehen, doch jetzt musste er dringend etwas essen.
Er stieg die Treppen hinauf und begab sich auf sein Zimmer, wo er sich einer kurzen Toilette unterzog und sein Hemd wechselte, damit er für den Speisesalon des Hotels eine entsprechend vornehme Erscheinung aufwies. Im Alta Vista legte man höchsten Wert auf eine korrekte Garderobe samt Etikette.
Mit beinahe brüllendem Magen betrat Philemon den Salon, der mit bodenlangen Damastvorhängen, Kronleuchtern und teurem Mobiliar im Queen-Anne-Stil ausgestattet war. Mit ihrer verschnörkelten Plastizität vermittelten die Möbel zwar eine gediegene Gastfreundlichkeit, dennoch schätzte Philemon mehr das Schlichte. Zum Beispiel die kühle, grafische Linienführung der Jugendstil-Bewegung, die gerade von Europa nach Amerika schwappte und in New York die neueste Mode war.
Er ließ sich vom professionell lächelnden Maître d’hôtel zu seinem Tisch geleiten und nahm auf dem ihm dargebotenen Stuhl Platz. Mit steifem Rücken schob sich Philemon näher an den Tisch heran, auf dem ein klassisches Gedeck aus peinlich genau ausgerichtetem Silberbesteck, wertvollen Bleikristallgläsern und einem Kandelaber drapiert war. Er entfaltete die gestärkte Serviette, während der Maître ihm mit nasaler
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