Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
Archiv der kleinen Folterkunde. Alle seine Sinne erinnerten sich an die damalige Zeit vor achtzehn Jahren, als Roderick DeForce ihn unter seine Fittiche genommen und ihn zu einem Mailman gemacht hatte. Nicht jeder konnte die Signale lesen, die ein physisch wie psychisch manipulierter menschlicher Körper aussandte. Ondragon lächelte. Darin war er damals besonders gut gewesen.
Er blickte in Ellys‘ bleiches Gesicht, registrierte jede einzelne Pore in der Haut, jedes pulsierende Äderchen.
Der Typ war ein DeForce-Mailman, dachte er. Und die waren bekanntermaßen aus härterem Stahl geschmiedet als seine übliche Kundschaft. Er näherte sich mit der Nase dem Gesicht und sog laut Luft ein. Der Schweiß des Gefesselten roch süßlich, nicht säuerlich. Als stünde er unter Glückshormonen und nicht unter Adrenalin. Er ließ Ellys‘ Haare los und musterte noch einmal eingehend dessen erschlaffte Mimik. Und schließlich wusste er, was es war, das er in Ellys‘ Augen gelesen hatte.
Hohn!
Der Mann machte sich über sie lustig. Trotz seiner Niederlage lachte er sie aus. Verdammt!
Ondragon wandte sich an Rod. „Bei dem bringt Folter nichts. Das will er nur. Er will den Tod. Er wird schweigen, egal, was wir ihm antun. Das ist sicher.“
„Ach ja?“, sagte Rod und trat mit seinem nackten Hacken unvermittelt in Ellys Gesicht.
Der Mailman kämpfte mit den Schmerzen, spuckte Blut und Bruchstücke seiner Schneidezähne aus, aber er behielt die Fassung. Sein anschließendes Grinsen war durchsetzt mit schwarzen Lücken.
„ Blast , jetzt mach ich dich fertig!“ Rod holte zu einer finalen Tätlichkeit aus, doch die Madame hielt ihn zurück.
„Moment noch!“, rief sie. „Ich glaube, ich könnte dem berüchtigten Mr. O ein wenig aushelfen.“
Rod hielt inne und sah die Madame mit gesenktem Kopf und blutunterlaufenden Augen an. In der Soutane des Reverends sah er aus wie ein rasender, schwarzer Stier, und eine bange Sekunde lang dachte Ondragon, Rods Zorn würde sich gegen die Voodoo-Queen richten. Doch dann trat ein milderer Ausdruck auf das rote Gesicht, und der Brite sprach plötzlich wieder wie ein wohlerzogener englischer Gentleman. „Mari-Jeanne, ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie uns helfen würden. Bitte, verzeihen Sie meinen Ausbruch. Ich habe vollkommen meine Manieren vergessen.“
Die Madame lächelte charmant und steckte eine Hand in ihre geheimnisvolle Jackentasche, die eine komplette Zauber-Apotheke zu beinhalten schien. Und als sie sie wieder herauszog, kam tatsächlich ein mit Federn verziertes Beutelchen zum Vorschein. „Vorsichthalber habe ich auch noch das hier eingesteckt. Voilà . Zombie-Gurke! Das Original!“ Sie ließ das Voodoo-Amulett zwischen ihren Fingern in der Luft baumeln. „Es macht nicht nur die Zombies verrückt, man kann es auch als Wahrheitsdroge verwenden. Davon müssten Sie eigentlich wissen, Mr. O.“ Sie sah ihn herausfordernd an.
„Selbstverständlich!“, sagte Ondragon sarkastisch. „Scopolamin. Das wird nicht nur gern in der Zombiebranche benutzt. Bis das geeignetere Mittel Thiopental aufkam, verwendeten es auch die Geheimdienste rund um die Welt, um Gefangene zum Reden zu bringen. Ich habe nie mit so etwas gearbeitet. War nicht mein Stil. Aber bitte sehr, versuchen Sie Ihr Glück.“ Mit einer auffordernden Geste überließ er der Madame das Feld.
„Könnte bitte jemand den Kopf des Delinquenten festhalten?“, fragte sie.
„Nichts lieber als das!“, entgegnete Rod und fixierte mit beiden Händen den Schädel des sich wehrenden Mailman.
Mit einer prätentiösen Bewegung öffnete die Madame das Säckchen und griff mit zwei Fingern hinein. „Gleich haben Sie, was Sie wollen, Messieurs. Und zwar … très vite .“ Mit raschen Handgriffen hatte sie das getrocknete Pflanzenpulver hinter beiden Ohren und auf den Schläfen von Ellys verteilt und richtete sich wieder auf.
„Jetzt müssen wir nur kurz warten“, sagte sie zufrieden und begann mit dunkler Schamanenstimme archaische Zauberformeln zu singen, wie sie es zuvor auch bei Rods Errettung getan hatte. Dazu holte sie eine kleine Rassel aus der Tasche und schlug sie vor Ellys‘ Gesicht in einem immer langsamer werdenden Takt. Bis sie innehielt.
„ Et bien , Ihr Kandidat wäre jetzt bereit zur Befragung!“
Ellys saß da. Unter halb gesenkten Lidern war sein Blick nach innen gerichtet. In die Schatzkiste seiner Erinnerungen, die sie jetzt plündern würden.
Ondragon ging vor dem Mailman in
Weitere Kostenlose Bücher