One: Die einzige Chance (German Edition)
wunderte sich darüber, dass es plötzlich so dunkel war. Die Beleuchtung an der Mauer war ausgegangen. Von den Straßenlaternen brannte nur jede zweite. Das orangefarbene Licht bildete ausgefranste Inseln, die den Untergrund nur schwach erleuchteten. Vielleicht eine Sparmaßnahme. Sein Vater hatte sich ja immer darüber aufgeregt, wie verschwenderisch in Hongkong mit Energie umgegangen wurde. Badawi kratzte am Gitter. Samuel kraulte ihm das Fell. »Tut mir leid. Das war nicht mit Absicht.« Badawi schnurrte. »Trotzdem musst du noch ein bisschen Geduld haben.« Unmöglich konnte er den Kater jetzt rauslassen. Er würde sofort anfangen, die neue Umgebung zu erkunden. Gleich morgen früh würde Samuel mit ihm in den nächsten Park gehen. Emilia hatte ihm dafür extra eine ziemlich scheußliche Ausziehleine besorgt. Rosa und Gold. Nicht nur was die Musik anbetraf, hatte sie einen grauenhaften Geschmack. Auch wenn es peinlich war, eine Katze an der Leine spazieren zu führen, hatte er keine bessere Idee, wie er Badawis Freiheitsdrang kontrollieren sollte, ohne ihn zu verlieren. In London bewohnte seine Mutter ein Haus mit Garten, das etwas außerhalb lag. Dort durfte der Kater dann wieder herumstreunen.
Der Eingang war ein rechteckiges Loch in der Mauer, das von einer Stahltür in Rostoptik verschlossen wurde. Es gab weder einen Türknauf noch eine Klinke. Statt Klingelschildern mit Namen befanden sich dreistellige Nummern vor den Wohneinheiten. Darunter ein quadratisches Zahlenfeld mit leuchtenden Ziffern. Er öffnete die Mail seines Vaters. So hatte er sich den Beginn seiner Unabhängigkeit nicht vorgestellt. Bestimmt würde Vincent sich blendend darüber amüsieren, dass gleich zu Beginn alles schiefging. Und er hatte ihm weder die Telefonnummer seines Studienfreunds noch die Nummer des Apartments geschickt. Großartig! Manchmal fragte sich Samuel, wie sein Vater es trotz seiner Schusseligkeit so weit bringen konnte. Er wollte gerade damit anfangen, alle Wohnungen durchzuklingeln, da hörte er von der anderen Seite der Tür eilige Schritte. Das Schicksal hatte ein Einsehen. Samuel atmete ein, lächelte und sah wahrscheinlich trotzdem so aus, als hätte er die letzten Minuten in einer Waschmaschine im Schleudergang verbracht. Besonders eklig waren die durchnässten Socken. Die Tür wurde aufgezogen. Ein Mann im Anzug schoss heraus, wie ein Hundertmeterläufer nach dem Startschuss. Reflexartig wich Samuel zurück, bevor es zu einer Kollision kommen konnte. Er wollte gerade zu einem Hallo anheben, doch der Mann huschte an ihm vorbei. Dann stolperte er über die Transportbox von Badawi. Geistesgegenwärtig griff ihm Samuel unter den Arm und verhinderte dadurch Schlimmeres. Fluchend riss sich der Mann aus der Umklammerung und lief auf einen Wagen zu, der im Schatten einer Platane stand. Für Sekunden lag ein intensiv herber Duft in der Luft. Samuel fuhr herum und stellte den Fuß in die schwere Tür, bevor sie wieder zufiel. Aus dem Augenwinkel sah er den Wagen im Schritttempo davonfahren, als würde der Mann mit dem Gedanken spielen, noch einmal umzukehren. Samuel verpasste der Tür einen Stoß, griff nach der Transportbox und stellte sie in den Spalt. Dann holte er die anderen Sachen. Eine Minute später stand er in einem Vorgarten, der diesen Namen nicht verdient hatte. Selten hatte er etwas Hässlicheres gesehen. Um mehrere verkrüppelte Bäume hatte man weiße Kiesel gestreut. Die restliche Fläche war mit hell gesprenkeltem Granit versiegelt. Natürlich war die Haustür verschlossen. Unterm Strich war er also keinen Schritt weitergekommen. Er hörte das Zuschlagen einer Autotür, dann das Summen des Türöffners. Vielleicht hatte der Mann etwas vergessen. Die Tür schwang auf und vor ihm stand eine kleine untersetzte Person mit wirrer Lockenmähne und nicht minder wirrem Gesichtsausdruck. Der Werkzeugkoffer in ihrer Hand war im Verhältnis viel zu groß. Offensichtlich kannte der Mann die Hausbewohner nicht persönlich, denn er schien sich nicht über Samuels Anwesenheit zu wundern. Sein irritierter Blick glitt hinüber zur Haustür.
»Geht der Scanner am Haus auch nicht mehr?«, fragte er fast verzweifelt. »Ist wirklich zum Verrücktwerden, wie empfindlich die Software auf Stromausfälle reagiert. Jede Woche ein neues Update. Alte Fehler werden behoben und neue tauchen auf. Und die Firewall kapituliert. Wenn jeder so lausig seinen Job machen würde, dann gute Nacht.« Ohne Samuels Antwort abzuwarten, drängte
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