One: Die einzige Chance (German Edition)
sich der Mann an ihm vorbei, setzte den Koffer mit einem lauten Scheppern auf dem Boden ab und begutachtete das dunkle Glasquadrat neben dem Hauseingang. Mit einem Saugnapf löste er das Glas und verband den darunterliegenden USB-Anschluss mit seinem Smartphone. »Bei Stromausfall sollte sich das System eigentlich wieder neu hochfahren, aber wahrscheinlich hat sich auch das Ding beim letzten Update einen Schnupfen eingefangen. Die Leute, die für diesen Viren-Scheiß verantwortlich sind, gehören eingesperrt. Alle! Die wissen gar nicht, was sie damit anrichten.« Er verstummte. Sein Blick haftete auf dem Fortschrittsbalken einer Grafik, der sich, ohne zu stoppen, der Hundertprozentmarke näherte. »Komisch. Das System läuft einwandfrei.« Er tippte einen Zahlencode ein und die Tür ließ sich öffnen. »Welche Nummer?«
»Ähm, Nummer? 3 … 3-0-1«, stammelte Samuel aufs Geratewohl. Das war die einzige Zahl vom Türschild, an die er sich erinnern konnte. »Weinfeld«, fügte er hinzu. »Bin zu Besuch.«
Der Mann drehte sich um und runzelte die Stirn. »Der wohnt meines Wissens in 201. Hat die Wohnung erst kürzlich gekauft.« Er musterte Samuel skeptisch.
»Ist ein Freund meines Vaters. Ich soll bei ihm übernachten. Mein Vater hat vergessen, mir die Nummer zu geben.« Samuel zuckte die Schultern, doch der Mann starrte ihn immer noch regungslos an.
»Schon gut, siehst nicht aus wie ein Einbrecher«, sagte er dann, lächelte und ging Samuel voran ins Treppenhaus. »Die Anlage verfügt über ein Notstromaggregat. Den Fahrstuhl würde ich momentan trotzdem lieber nicht benutzen. Bei Stromausfall braucht die Software ziemlich lange, bis sie wieder hochfährt.«
Eine Minute später standen sie im Flur des zweiten Stockwerks. Vor den Wohnungstüren lagen weder Fußabtreter noch Schuhpaare. »Sind hier auch Büros?«, fragte Samuel.
»Nein, manche Leute haben es nur nicht nötig einzuziehen. Das meiste hier sind unbewohnte Sparschweine. Der Freund deines Vaters scheint da eine rühmliche Ausnahme zu sein.« Mit einem schiefen Lächeln drückte der Mann auf den Klingelknopf. Ein gedämpftes Läuten erklang. »Sicher, dass er zu Hause ist?«
»Ja, er weiß, dass ich komme. Mein Vater hat mit ihm gesprochen.« Samuel war sich nicht sicher, ob das stimmte. Vielleicht hatte sein Vater auch wieder etwas Wichtiges vergessen. Zum Beispiel, dass sein Studienfreund gerade auf Geschäftsreise war oder ihn erst in zwei Tagen erwartete oder so. Möglich war alles.
Von der anderen Seite der Tür kam ein schleifendes Geräusch.
»Merkwürdig.« Der Techniker klopfte gegen die Tür und rief den Namen von Kaspar Weinfeld. Erneut das Schleifen, dann zerschellte etwas auf dem Boden. Vielleicht eine Vase. »Da stimmt was nicht. Tiere sind hier eigentlich verboten. Mir ist das ja egal, aber die Hausverwaltung macht Ärger, wenn das rauskommt.« Der Mann zog eine Plastikkarte aus der Brusttasche seines verblichenen Poloshirts, tippte etwas in ein Zahlenfeld und legte die Karte auf den Fingerabdruckscanner. Das Schloss wurde entriegelt. Die Tür ließ sich nur einen Spalt aufdrücken, doch dieser Spalt genügte: Samuel sah auf eine blutige Hand mit gekrümmten Fingern, wie in einem Horrorfilm.
»Verdammt!«, brüllte der Techniker. Er versuchte die Hand nach hinten zu drücken, damit sich die Tür aufschieben ließ. »Ruf den Notarzt und die Polizei! Zuerst die Polizei«, keuchte er, quetschte sich durch den Spalt, zog den Körper von der Tür weg und öffnete sie. Wie erstarrt blickte Samuel auf die große glänzende Blutlache neben dem verdrehten Oberkörper. So viel Blut hatte er noch nie gesehen.
»Ist er tot?«
»Nein. Er atmet noch. Verdammt.« Der Techniker riss Weinfeld das Hemd auf. Samuel hörte ein Tuten, gefolgt von einem Besetztzeichen und der Ansage einer Maschinenstimme.
»Wie ist die Nummer vom nächsten Polizeirevier?«, fragte er. »Dort soll man anrufen.«
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte der Mann schroff, riss ein Sakko von der Garderobe und legte es dem Mann unter den Kopf. Das schwarze Hemd glänzte feucht. Mehrere dunkel umrandete Stichwunden waren zu erkennen, aus denen Blut sickerte wie aus kleinen Quellen. Nie hatte Samuel etwas Schrecklicheres gesehen. Seine Eingeweide zogen sich zusammen und er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen.
»Ich hol den Verbandskasten«, sagte der Techniker. »Nimm dein Hemd und drück es da obendrauf. Ganz fest.«
Samuel schlüpfte aus seinem
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