One: Die einzige Chance (German Edition)
Hemd, kniete sich neben den bewusstlosen Mann und drückte den zerknüllten Stoff auf die größte der klaffenden Wunden. Doch die Blutung ließ sich nicht stoppen. Unter seinen Fingern spürte er, wie sich der Stoff vollsog. Am liebsten hätte er geschrien. Plötzlich schlug Weinfeld die Augen auf. Er starrte ihn an und versuchte zu sprechen, aber nur ein Gurgeln drang aus seiner Kehle. Blut lief aus den Mundwinkeln. Samuel konnte nur das Wort »Weinfeld« verstehen. Mehr nicht.
»Alles wird gut«, flüsterte Samuel und strich dem Mann über die Stirn. »Gleich kommt Hilfe.« Er wusste, dass es gelogen war. Ein Röcheln, der Körper erschlaffte. Der Techniker zog ihn unsanft zur Seite. In den Händen hielt er dicke Mullbinden. Eine davon fiel ihm aus der Hand. Das weiße Band kullerte lautlos über den Boden und sog sich mit Blut voll. Der Techniker stand da wie erstarrt. Keine Eile mehr. Vor ihnen lag ein Toter.
»Ist er tot?«, fragte Samuel wieder, als gäbe es noch einen Funken Hoffnung. Er wollte nicht glauben, was soeben passiert war. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, bis drei gezählt und gehofft, dass ihm sein Gehirn einen Streich spielte, dass er Teil eines bizarren Traums war, hervorgerufen durch Alkohol und Beruhigungstabletten. Aber das Blut an seinen Händen und dieser Geruch nach Salz und Eisen – das war keine Einbildung. Leider. »Wiederbelebung«, murmelte er vor sich hin. Der Techniker schüttelte den Kopf, wie die Ärzte bei Grey’s Anatomy , wenn sie den Kampf verloren hatten. Samuel erhob sich. Von irgendwoher war ein Klacken zu hören. Im Treppenhaus gingen die Lichter an. Aus der Küche hörte man, wie sich der Kühlschrank einschaltete. Der Anrufbeantworter auf dem Beistelltisch begann zu blinken. Nur der Mann, die Leiche, Kaspar Weinfeld, verharrte regungslos in seiner gekrümmten Position, als würde ihn diese Welt nichts mehr angehen. Als hätte sich sein Geist bereits auf die Reise gemacht. So hatte sich Samuel den Tod immer vorgestellt, als Reise in ein neues Leben. Dieser Gedanke war ihm immer schon tröstlicher erschienen als all die Erzählungen vom Himmel oder dem Paradies. Das würde ihm von Hongkong in guter Erinnerung bleiben: der Glaube der Buddhisten, wiedergeboren zu werden.
»Ich versuch es über Funk«, sagte der Techniker und rannte nach unten. Samuel starrte auf seine Hände. Blut, überall Blut. Es gibt für alles ein erstes Mal, dachte er. Auch für die Begegnung mit dem Tod. Er erhob sich und schaute ein letztes Mal in das faltige Gesicht des Mannes. Dann ging er ins Bad und wusch sich die Hände. Während er die Seife zwischen seinen Fingern rieb, schaute er kurz in den Spiegel. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er weinte um einen Menschen, den er nicht gekannt hatte.
Sieben
Frankfurt | 18 Grad | Bewölkt
»Vincent ist zu einem Treffen aufgebrochen.« Nicht einmal Emilias Stimme wirkte diesmal beruhigend auf Samuel. Er stand vor dem Haus und blickte den Sanitätern nach, die zurück zu ihrem Wagen eilten. Ein neuer Einsatz. Hoffentlich ein Mensch, den man noch retten konnte. Blaulicht zuckte über die Hauswand und das Gesicht einer Frau, die rauchend auf einem Balkon im ersten Stock stand und weder Bestürzung noch Anteilnahme zeigte. Sie wirkte abwesend, als würde all das sie nichts angehen. Eine Statistin, die wieder von der Bildfläche verschwand und nichts mit der Leiche, dem Blut und dem Messer zu tun hatte. Im Gegensatz zu ihm. Er war mittendrin. Er war Teil dieser Geschichte. Das Blut an den Händen war verschwunden, aber vor seinem inneren Auge blitzten alle paar Sekunden Bilder der Leiche auf, von den Wunden, dem vollgesogenen Hemd, dem verzweifelten letzten Sprechversuch.
»Vor drei Stunden«, redete Emilia weiter. »Er war sehr agitado , aufgeregt. Die Polizei war am Morgen da.«
»Die Polizei? Hat er wieder rumgeballert, um ein Tier zu verjagen?«
»Nein. Er hat es nicht gesagt. Er hat nicht darüber gesprochen.« Der Empfang wurde schlechter, einzelne Silben wurden zerhackt. »Geht es dir gut, mein Junge? Du hörst dich erschöpft an. Du musst aufpassen auf dich, hörst du? Ich bete jeden Tag für dich. Und vergiss nicht zu essen.«
Rauschen.
»Nein, nein, dass vergesse ich nicht. Danke, Emilia.« Samuel räusperte sich. Er wollte den verräterischen Klang aus seiner Stimme verdrängen. »Wohin ist mein Vater denn geflogen? Er hat gar nicht gesagt, dass er wegmuss.«
»Ich weiß es nicht. Er hat sogar den Helikopter genommen.
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