One: Die einzige Chance (German Edition)
nicht. Er hatte sich nicht weit von seinem Wagen entfernt, vielleicht einen Kilometer. Höchstens. Und er war nur einmal abgebogen. Er hatte einen Schlenker nach rechts über ein ausgetrocknetes Bachbett gemacht. Erinnere dich, du Idiot! Wütend starrte er in alle Himmelsrichtungen und suchte nach einer Perspektive, die ihm einen Anhaltspunkt gab, von wo aus er gekommen war. Auf dem Weg in die Berge war er nur wenigen Autos begegnet. Er konnte also nicht darauf hoffen, sich an Motorengeräuschen orientieren zu können. Erst jetzt bemerkte er die Feuchtigkeit an seinen Kleidern. Das Hemd klebte wie ein Lappen auf seiner Haut. Am liebsten hätte er es ausgezogen, so widerlich war das Gefühl. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich darauf, einen Anhaltspunkt zu finden. Wenn er die falsche Richtung einschlug, würde er morgen noch durch den Wald irren. Er entfernte sich vom Baumstamm weg auf den Mittelpunkt der Waldlichtung zu. Von hier hatte er geschossen. Er blickte nach links. Dort hatte er die Äste gefunden, mit denen er sein Ziel gebaut hatte. Aber von wo war er gekommen, was war das Erste gewesen, das er gesehen hatte, als er auf die Lichtung hinausgetreten war? Den Baumstamm, den Bachlauf, den kleinen Hügel mit den Brombeersträuchern? Am liebsten hätte er geschrien, seine Wut in die einsetzende Dunkelheit hinausgebrüllt und das Echo erwartet. Er war ein Trottel, ein gottverdammter Trottel!
Er hob die Faust zum Himmel. »Was soll das? Warum pfuschst du mir ins Handwerk? Warum mischst du dich ein? Ist das Leben der beiden Männer so viel mehr wert als das Leben der anderen? Hey, ich hab dich immer in Schutz genommen. Nicht nur wegen meiner Brüder. Auch als du das erste Kind meiner Frau zu dir geholt hast. Aber jetzt reicht’s. Wenn du der Meinung bist, dass diese Männer leben sollen, dann halt ich das für reichlich ungerecht. Hast du mal einen Blick auf meine Heimat geworfen? Hast du mal geschaut, was anderswo in der Welt abgeht? Kümmert es dich nicht, dass überall Kinder sterben? Unschuldige. Und ich sag dir mal was, diese Männer sind bestimmt keine Unschuldigen. Diese Männer haben ihren Reichtum darauf gebaut, andere für sich schuften zu lassen, bis sie verrecken!« Kayan hielt inne. Sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig. Die Muskeln in seinem Gesicht schienen unkoordiniert zu explodieren. Er musste sich entscheiden. Er konnte nicht warten, bis es wieder hell wurde. Was er dann tat, war lächerlich. Hätte er sich selbst dabei gesehen, hätte er fassungslos den Kopf geschüttelt. Er schloss die Augen und drehte sich im Kreis. Zwei-, drei-, viermal, wie ein Derwisch, der sich in Trance versetzte, und dann, bevor ihm der Schwindel den Boden unter den Füßen wegzog, öffnete er die Augen und blieb stehen. Seine Pupillen flackerten im Pulsschlag seines Herzens.
»Ich will, dass du mich führst!«, brüllte er. »All die Jahre hab ich dich aus meinem Job herausgehalten, aber dieses eine Mal will ich, dass du mich führst. Keine Angst, ich werde nicht in deinem Namen töten. Ich werde dich nicht beschmutzen, aber ich will, dass du mir den Weg zeigst. Das bist du mir schuldig!« Kayan ließ seine Faust sinken und starrte in den Himmel, als würde er auf ein göttliches Zeichen warten. Einen Meteoriten oder einen Blitz, der neben ihm einschlug und den Deal bestätigte. Als nach einer gefühlten Ewigkeit nichts passierte, stapfte er grummelnd davon.
»Autofahren kannst du also auch nicht«, bemerkte Fabienne und zielte mit einem Gerät, das die Größe einer Zigarettenschachtel hatte und über ein kleines Display verfügte, auf den matt lackierten Wagen.
»Ich bin gerade erst achtzehn geworden!«, entgegnete Samuel.
»Das ist eine schwache Ausrede.« Das Display blinkte grün auf, ein Klacken der Zentralverriegelung und Fabienne öffnete die Tür. »Kannst du mal schauen, wie man hier rauskommt? Vielleicht kann man die Glasscheiben aufschieben. Irgendwie müssen die Wagen ja auch reingekommen sein.«
»Warum nehmen wir keines von den Autos, die draußen stehen? Die sind eine Nummer kleiner.«
»Und haben einen leeren Tank!« Sie stellte einen Fuß auf das Trittbrett und hielt den Apparat in Richtung der Armaturen. Dann fuhr sie herum. »Scheiße!«
»Kriegst du ihn nicht an?« Samuel starrte ins Wageninnere. Fabienne hatte ihr Handy auf den Ledersitz gelegt. Das fahle Licht ließ ihr Gesicht wie das eines Geistes aufflackern.
»Da kommt jemand«, flüsterte sie und wich
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