Oneiros: Tödlicher Fluch
zwanzigtausend geschätzt wurde, ereilte es in Alltagssituationen und nicht im ungefährlichen Sessel vor dem Fernseher. Ohne dass sie es wollten oder zu kontrollieren vermochten.
Konstantin fluchte leise, als er weiterlas: Narkolepsie war nicht heilbar. Verbesserbar, aber nicht heilbar. Eine Liste der Medikamente war angehängt.
Und mit jedem unfreiwilligen Einschlafen wird Arctander tödlicher und tödlicher.
Er musste Jester nun in seinem Entschluss recht geben, den Todesschläfer zu beseitigen.
Er ist zu gefährlich.
Grund für die Krankheit war eine Störung in der Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus, schrieb der Artikel. Das führte zu einem Mangel des Botenstoffs Hypocretin, eigentlich gebildet im Zwischenhirn, dem Hypothalamus. Wie so oft, wenn es um das Gehirn ging, rätselten die Wissenschaftler, welcher Mechanismus hinter den abrupten Schlafattacken steckte. In den letzten Jahren waren kaum Fortschritte erzielt worden.
Logisch. Die Zahl der Befallenen ist so gering, dass es für die Pharmaunternehmen keinen monetären Anreiz gibt, ein Medikament zu entwickeln.
Keine Chance für Arctander.
Es war nicht nur so, dass Narkoleptiker unter unvermittelten Schlafattacken litten. Abgesehen von erschlaffenden Muskeln, wurde von kompletten Lähmungen und Halluzinationen berichtet. Andererseits war es aber auch möglich, dass die Erkrankten während eines Anfalls mit dem fortfuhren, womit sie vor dem Einschlafen angefangen hatten, ohne sich ihres Handelns bewusst zu sein. Allein die Situation entschied über harmlose oder schreckliche persönliche Folgen. Das Gemüseschneiden konnte Finger kosten, das Überqueren der Straße das Leben.
Ob in der Straßenbahn, in der Vorlesung, beim Bügeln, es gab keinen Schutz. Die Muskeln erschlafften, die Narkoleptiker sackten zusammen und mussten sich dem unwiderstehlichen Drang hingeben einzuschlafen.
Du meine Güte!
Konstantin wurde beim Lesen erst bewusst, welche Dimensionen diese Krankheit hatte. Die meisten Narkoleptiker schliefen mehrmals pro Tag ein, die Dauer variierte zwischen Sekunden, Minuten und Stunden. Das genügte dem Tod in Arctanders Fall vollauf, sofort zuzuschlagen.
Besonders gefürchtet war die Kataplexie, bei der sämtliche Muskeln schlaff und kraftlos wie im Schlaf wurden. Auslöser waren meist starke Gefühle.
Konstantins Blick huschte über die Zeilen.
Lachen, Ärgern Scherzen, Stress, bei Aufregung, Überraschung. Oder auch beim Sex.
Wäre es nicht so bedauernswert gewesen, hätte er lachen müssen. Bei einer Kataplexie, die zwischen wenigen Sekunden bis hin zu mehreren Minuten dauerte, blieben die Betroffenen bei vollem Bewusstsein.
Perverserweise schliefen die Erkrankten fast immer schlecht, waren unruhig und fanden nachts keinen Schlaf, womit sie anfälliger für Attacken während des Tages wurden.
Meine Güte. Ein solches Päckchen möchte niemand tragen müssen.
Konstantin fuhr sich mit der Hand über die Stirn, trank von seinem Wasser. Er bekam unglaubliches Mitleid mit dem Mann. Gejagt von den
Topor’s Men,
von ihm, von Thielke. Dabei wollte Arctander vermutlich nur in Ruhe gelassen werden und flüchtete auf der Suche nach einem Refugium durch die Weltgeschichte.
Aber es wäre unverantwortlich, ihn nicht zu stoppen. Er bringt Unschuldige, ohne nachzudenken, in Gefahr.
Gerade wollte sich Konstantins Moral wieder melden und ihn fragen, ob der Tod des Narkoleptikers gerechtfertigt war oder ein Exil in menschenverlassener Gegend nicht ausreichte, da zeigten sie die Toten in Marrakesch in Großaufnahme, die von Soldaten in ABC-Ponchos auf Lastwagen geladen wurden.
Unverantwortbar.
Konstantin entschied, sofort nach Idar-Oberstein zu fahren, um SH auf den Zahn zu fühlen. Er schaltete den Laptop aus, sammelte seine Sachen zusammen und verstaute sie in seinem Köfferchen, bezahlte und verließ das Bistro.
Er ging zu den kleinen Kabinen, in denen die Mietwagenunternehmen saßen, um sich ein Auto zu besorgen. Es sollte unauffällig und zuverlässig sein, ihn schnell in die Pfalz bringen, in die Stadt, von der er noch nie gehört hatte und die doch Deutschlands Herz für Edelsteine und Diamanten war.
Auf der vorhin angesurften Webseite der internationalen Fachzeitschrift
Jeweler’s Circular Keystone
wurde Idar-Oberstein als »the world center of coloured stones« beschrieben. Die Börse handelte unter anderem mit Rohsteinen und verfügte über gut gesicherte Tresore, in denen Lager angelegt waren, falls unruhige Zeiten in den Ursprungsländern
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