Oneiros: Tödlicher Fluch
das hatte Thielke deutlich in ihrem Gesicht lesen können, glaubte Carola Hoya ihm nicht.
Aber nach dem ersten Tag hatte er plötzlich rauchen dürfen, damit sein Nikotinspiegel stieg. Seine Gereiztheit schwand mit der ersten Zigarette, aber das Nervengift war für seine eigentliche Besonderheit wesentlich wichtiger. Der Grund, warum er überall und zu jeder Zeit einschlafen konnte, ohne Verderben zu bringen.
Es klopfte, und gleich danach öffnete sich die Tür.
Carola Hoya kehrte zurück. Sie trug heute ein knielanges, schwarzes Kleid mit einer weißen Stola aus Seide darüber, flache Schuhe und die Haare offen. Zwei lange Spangen aus Silber verhinderten, dass ihr Strähnen ins Gesicht rutschten. Sie hatte den Laptop dabei, mit dem sie ihre Verhöre aufzeichnete.
»Guten Tag, Señor Thielke«, grüßte sie freundlich. »Wie war das Frühstück?«
»Dieser Café bombón ist eine Wucht«, antwortete er, »auch wenn ich mir jedes Mal eine Insulinspritze dafür geben muss.« Er nahm einen Cola-Kaugummi vom Nachttisch, entfernte das Papier und schob ihn in den Mund. »Wieder ein Verhör?«
»Unterhaltung, Señor Thielke.« Carola setzte sich in einen Sessel neben dem Bett, klappte den Rechner auf und aktivierte das Aufzeichnungsprogramm. Die eingebaute Kamera nahm sein Gesicht auf, Carola blieb außerhalb des Bildes. »Kann ich Ihnen noch etwas bringen lassen?«
»Freiheit wäre schön. Gewürzt mit einer Prise Klamotten«, gab er zurück. »Der Aufenthalt im goldenen Käfig dauert mir zu lange. Fürs Protokoll«, sprach er in die Kamera. »Das hier tue ich nicht freiwillig, und außerdem bin ich unzurechnungsfähig. Ich glaube weder an Schnitterringe noch an den leibhaftigen Tod noch … an … ach ja, Todesschläfer.« Er grinste und formte eine Gummiblase vor dem Mund, die mit einem Knall barst. »Das habe ich alles erfunden, um die kranke Señora hier glücklich zu machen. Ich hoffe, die Polizei buchtet sie ein.«
»Das haben Sie schön gesagt. Vielleicht mache ich Sie berühmt, Señor: Thielkes Märchen, niedergeschrieben von Carola Hoya.« Sie lachte und setzte sich bequem hin. »Also, Todesschläfer rufen den Tod, sobald sie schlafen. Weil der Tod sich rächen will, weil er wütend ist, weil er sich durch ihre Unsichtbarkeit provoziert fühlt. Es gibt verschiedene Gründe«, resümierte sie, »über die letztlich nur spekuliert werden kann. Richtig?«
»Richtig. So habe ich es mir zumindest ausgedacht.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Es existieren verschiedene Organisationen, sagten Sie?«
»Ja, wobei ich mit denen nichts zu tun habe.« Das war gelogen, weil er testen wollte, ob sie es erkannte. Sie hatte in den letzten zwei Tagen eine bemerkenswerte Auffassungsgabe und Menschenkenntnis bewiesen. Er schob es darauf, dass er durch den Insulin-, Nikotin- und Koffeinentzug leichter zu durchschauen war als sonst. »Ich kenne sie nur vom Hörensagen.«
Sie nickte. Diese Lüge schien ihr nicht aufgefallen zu sein. »Jetzt erklären Sie mir bitte erneut, weswegen
Sie
schlafen können, ohne dass der Tod kommt und ein Massaker anrichtet wie im Estadio Santiago Bernabéu.«
»Haben Sie es beim ersten Mal nicht verstanden?«
»Schon. Aber die Aufnahme war schlecht.«
Thielke grinste. »Na schön. Noch mal von vorne. Sie schließen die Augen, Sie schlafen ein, und Ihr Gehirn tut das auch. Komplett. Beide Hirnhälften schalten in den Standby und verarbeiten, was Sie tagsüber erlebt haben. Die Rekalibrierung der Traumfabrik.« Er setzte sich auf, knautschte sein Kissen und stopfte es sich ins Kreuz. Carola korrigierte die Position der Kamera. »Sobald Todesschläfer einschlafen, wird es für die Umgebung unschön, wie ich Ihnen schilderte. Also suchte ich nach einem Weg, das zu vermeiden.«
»Gestatten Sie mir die Zwischenfrage. Warum benutzen Sie keine Schlafmittel? Sie sagten doch, dass ein unnatürlicher Schlaf vor der Heimsuchung durch den Schnitter schützt.«
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Wenn es doch so einfach wäre. Es müssten Betäubungsmittel sein, wie Narkosemittel oder K.o. -Tropfen. Da es auf Dauer nicht sonderlich gesund ist, solche Mittel zu benutzen, wollte ich einen besseren Weg finden, als mir immer einen Baseballschläger überziehen zu lassen, damit ich einschlafe, ohne Menschen dabei umzubringen.« Thielke sah zu ihr. »Die Antwort fand ich im Tierreich.«
»Tiere schlafen anders als wir Menschen?«
»Manche Tiere. Es gibt eine spezielle Art zu schlafen, die sich
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