Oneiros: Tödlicher Fluch
eine zentrale Vorrichtung für die Einspeisung des Gases gegeben zu haben. Die Klimaanlage, vermute ich.«
»Aber der Araber …«
»Die Stahlflasche des Mannes enthielt nichts als reinen Sauerstoff. Sie, Mister Tremante, leben vermutlich wegen eines kleinen Zufalls noch, den die Terroristen nicht bedachten.« Er nahm das Glas, setzte es an die Lippen und leerte es.
»Wie sind die Attentäter ins Cockpit gelangt? Weiß man das schon?«
Darling zuckte mit den Achseln. »Die Kanzel wurde durch den Aufprall zu stark zerstört, um Rückschlüsse auf den genauen Ablauf zu ziehen. Fest steht, dass die Tür offen stand und sich eine Stewardess gegen die Vorschrift von Air France bei den Piloten befand. Vielleicht wurden sie erpresst, die Tür zu öffnen. Aber das herauszufinden ist Sache der Franzosen. Es sollte ihnen recht problemlos gelingen, sobald die Black Box gefunden ist. Ich hingegen bin auf der Suche nach den winzigen Details, die verlorengehen könnten.«
Tommaso erinnerte sich plötzlich an die stickige Luft in der Toilette. »Die Frischluftzufuhr war kaputt!«
»Bitte?«
Ihm wurde plötzlich klar, warum er in einem gemütlichen Hotel saß, anstatt zusammen mit den übrigen Passagieren im Leichenhaus zu liegen – oder zu Asche verbrannt zu sein. »Im Klo! Die Lüftung funktionierte nicht, es kam weder Luft rein noch raus!«
»Das wird es gewesen sein, Sir.« Darling stellte das Glas auf den Tisch. »Wo wir Ihre grauen Zellen auf Trab gebracht haben, fällt Ihnen noch was ein? Sie wissen jetzt ja, dass es auf die kleinste Kleinigkeit ankommt.«
Tommaso rieb sich über die linke Ohrmuschel, als könnte er seine Erinnerung damit stimulieren. Alles, was er sah, waren jedoch die Gesichter der Toten. Darling schien das Trauma mit seinen beschissenen Psychospielchen aktiviert zu haben. »Nein. Tut mir leid.« Tommaso konnte immer noch nicht glauben, dass er sein Leben etwas so Banalem wie einer kaputten Lüftung verdankte. »Einer kaputten Lüftung und einem brutal starken Kaffee«, murmelte er vor sich hin.
»Kaffee, Sir?« Darling hatte sich unbemerkt erhoben und eine Karte auf den Tisch gelegt.
»Si.« Er steckte sie ein. Damit war das Dutzend an Visitenkärtchen von Ermittlern voll. »Ich habe aus Versehen, wie mir gesagt wurde, einen Kaffee bekommen, der für einen anderen Passagier vorgesehen war. So etwas Starkes habe ich noch nie getrunken. Und ich bin Italiener! Als hätte man Espresso in eine Kaffeekanne gefüllt. Das hat meinem Magen den Rest gegeben.«
»Trotzdem tranken Sie ihn?«
»Er war lecker«, sagte Tommaso leise. »Über den Geschmack konnte ich mich nicht beschweren. Nur die Wirkung war fatal. Und dann auch wieder nicht. Er rettete mir immerhin das Leben.«
»Was für ein Zufall.« Darling setzte seine Sonnenbrille wieder auf und reichte Tommaso die Hand: trocken, kräftig und warm im Gegensatz zu seiner feuchten, kühlen Haut. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, Sir. Sollten Ihnen weitere Details einfallen, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Im Namen des MI 6 möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Mitarbeit bedanken.«
»Keine Ursache.« Tommaso blieb sitzen und schaute nicht hin, als der Agent zur Tür hinausschritt und ihn mit den Bildern der Toten allein ließ.
Er schaltete den Fernseher ein und zappte durch die zahlreichen Sondersendungen zum Unglück.
Je mehr er sah, desto weniger konnte er es begreifen. Je mehr Zerstörung er sah. Je mehr Details zu sehen waren. Familien ausgelöscht, junge und alte Menschen. Gute Menschen. Dabei vermischten sich seine eigenen Erinnerungen mit den gezeigten Bildern. Die Mutter mit ihrem Sohn, der Sky Marshal, der Araber, die Stewardess … Es wurde schwerer und schwerer, die Bilder zu ertragen.
»Warum habe ich überlebt?«, flüsterte er und schaltete den Fernseher aus. Er wollte nichts mehr davon sehen. »Warum ich?«
Auf das penetrante Telefonklingeln reagierte er nicht.
Cospudener See, Leipzig, Deutschland
Konstantin sprang vom Oberdeck auf den Steg und rannte los, den beiden Räubern hinterher, die beinahe sofort bemerkten, dass sie verfolgt wurden und ihre Geschwindigkeit erhöhten. Dumpf polterten die Sohlen ihrer Turnschuhe über die Holzbohlen.
Keiner der Besucher der Marina stellte sich den Männern in den Weg. Sie machten ihnen stattdessen Platz, um nicht in die Sache verwickelt zu werden.
Konstantin fühlte eine gewisse Leichtigkeit, die drei
Red Russians
machten sich bemerkbar. Er war besser vorsichtig, denn
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