Oneiros: Tödlicher Fluch
finden!« Er lächelte sein Schauspielerlächeln, das schon mal überzeugender gewesen war, und verließ die Brasserie.
Schöne Scheiße.
Konstantin beobachtete, wie Jester die Straße überquerte, zu einem parkenden schwarzen Bentley marschierte und einstieg. Das Fahrzeug blieb stehen, Jester unterhielt sich darin mit einem anderen Mann, wie er durch die Scheiben erkannte.
Konstantin nahm sein eigenes Handy aus dem Sakko und überlegte kurz, welche Vorwahl er benötigte.
0091
?
Er versuchte es einfach und wählte nach den vier Ziffern eine Nummer, die er schon lange nicht mehr angerufen hatte.
Es knackte und summte in der Leitung, auf das Klackern folgte ein Freizeichen, das stabil und laut klang.
Jester hätte mich eben ausreden lassen sollen.
Konstantin trank einen Schluck Kaffee und biss vom Croissant ab.
Wie es aussah, war niemand da.
Nach dem dreißigsten
tuuut
legte Konstantin auf und schaute wieder zur Notre-Dame. Sämtliche Glocken waren in Betrieb, als wäre ein neuer Papst gewählt worden oder der französische Ministerpräsident verstorben. Lilou wurde die größte Ehre zuteil, welche die Kathedrale vergeben konnte.
Der schwarze Bentley fuhr an, drehte auf der Straße, ohne Rücksicht auf den hupenden Gegenverkehr, und schoss an der Brasserie vorbei. Jester winkte Konstantin nochmals zu und deutete auf sein Smartphone.
MI6. Das gefällt dir, Mister Bond.
Er nahm einen zweiten Bissen vom Croissant. Konstantin richtete seine Sonnenbrille und bewahrte Jesters Zwanziger mit einem raschen Griff davor, von einer Böe gestohlen zu werden.
Er stellte den Zuckerstreuer als Beschwerer auf den Schein – und erblickte auf der metallenen Oberfläche die Spiegelung einer Gestalt hinter sich, die ihm sehr bekannt erschien. Hinter einer Säule verborgen entdeckte er den älteren Mann, der ihn in Leipzig zuerst fotografiert und ihm anschließend ins Bein geschossen hatte!
Der Fremde hatte seine Kamera dabei, die er zum Auslösen just vors bärtige Gesicht hielt.
Ich habe ihn zu Jester geführt. Oder Jester ihn zu mir?
Konstantin überlegte fieberhaft, wie er reagieren sollte.
Er schätzte seinen Schatten so ein, dass er den LeMat-Revolver bei sich trug. Demnach würde eine offene Konfrontation vermutlich mit einem weiteren schmerzhaften Beinschuss enden.
Ich warte fürs Erste einfach ab, was er will. Aktuelle Fotos von mir für seine geheimnisvolle Ablage hat er schon. Das kann es nicht sein.
Konstantin tat so, als habe er ihn nicht bemerkt, und beobachtete dessen verzerrtes Abbild im Zuckerstreuer.
Als sich der Fremde nach einer Weile aufmachte, blieb Konstantin wenige Sekunden sitzen und folgte ihm mit genügend Abstand.
Dummerweise führte ihn sein Weg nicht zur Notre-Dame, sondern in die Straßen der Île Saint-Louis. Lilou de Girardin würde wohl ohne ihren Thanatologen den letzten Segen bekommen.
[home]
X
Hier liegen
meine Gebeine,
ich wollt’,
es wären
Deine.
Grabinschrift,
Verfasser unbekannt
Ciudad Mier, Mexiko
K ristin saß in einem holzwurmdurchlöcherten Schaukelstuhl auf einer verlassenen Veranda, die zu einem Haus gehörte, das wiederum am Ende einer Straße namens
Colón
lag, am südöstlichen Rand des Städtchens Mier.
Fünftausend Einwohner sollten einst hier gelebt haben. Wenn sie seit ihrer Ankunft zwei Menschen zu Gesicht bekommen hatte, waren es viel gewesen.
Sie unterdrückte ein Gähnen, balancierte auf dem schmalen Grat zwischen Wachen und Schlafen. Absichtlich.
Unmittelbar neben der Veranda stand ihr Auto, ein abgewrackter dunkelgrauer Dodge Ramcharger, der in der Stadt nicht weiter auffiel – sofern es außer den beiden Leuten jemanden gab, dem es auffallen konnte. Die Einwohner waren schon einmal geflüchtet, nachdem das Drogenkartell der
Los Zetas
angekündigt hatte, jeden im Ort zu töten. Einige kehrten zurück, aber Mier lag am Boden. Banken, Läden, Tankstellen, Einrichtungen des öffentlichen Lebens – geschlossen. Eine Geisterstadt.
Alles in allem kam sie sich wie in einem Tarantino-Film nach dem abschließenden Showdown vor, die zerschossenen, abgebrannten Häuser, die zerfetzten Autowracks sowie eine Handvoll Tote auf der Straße. Der Streifen schien nicht angehalten zu haben, sondern lief weiter und zeichnete die traurigen, unheroischen Reste der vorangegangenen Kämpfe auf. Eine Putzkolonne erschien gewiss nicht.
Der Vorteil an Filmen war allerdings, dass man den Geruch in einer solchen Szene nicht einatmen musste.
Kristin konnte sich hinsetzen,
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