Oneiros: Tödlicher Fluch
sehe dein skeptisches Gesicht vor mir.« Es raschelte, sie schien den Hörer in die andere Hand zu nehmen. »Bei der Göttin, deren Name ich trage, schwöre ich dir, dass mir bis zu deinem Anruf der Name Arctander nichts sagte und dass wir, die
Thuggee Nidra,
ihn folglich nicht jagen.« Nach einem Atemzug setzte sie hinzu: »Die Frage, die sich mir stellt, ist: Warum behauptet Darling das?«
Konstantin fragte sich dasselbe.
Ist Jester so verzweifelt, dass er sogar bereit ist, mich anzulügen?
»Ich werde es herausfinden. Ich danke dir vielmals, Durga. Pass auf dich auf.«
»Das sollte ich lieber
dir
sagen. Ich kann dich nicht noch einmal retten, Oneiros.«
»Ich führe ein anderes Leben …«
»… das dich immer noch mit dem MI 6 verbindet. Und damit führst du fast das gleiche Leben.« Die Inderin hantierte mit einem metallischen Gegenstand, leises Klirren erklang. »Hüte dich vor uns, Oneiros. Jeden Tag. Yama hasst dich.« Sie legte auf.
Konstantin stand vor einem Schaufenster und sah sich selbst darin, mit der Plastiktüte, im feinen Anzug, mit Krawatte, Hut und Sonnenbrille. Er kam sich unglaublich fremd vor.
Sie hat recht. Ich sollte aufpassen, was ich tue, sonst führe ich bald wieder das Leben, von dem ich genug hatte.
Er steckte sein Handy ein und schlenderte zur Kathedrale.
Die Glocken schlugen nicht mehr, der Gottesdienst hatte mit Sicherheit begonnen, und ein zu spät kommender Gast würde sofort auffallen.
Konstantin beschloss, später nach Lilou zu sehen. Er wurde Durgas Bild nicht mehr los. Aufgestiegen aus den Erinnerungen, blieb es haften wie ein altes Bild in einem Spiegelrahmen, das sich stets auf die Betrachtung der Gegenwart auswirkte.
Ihren richtigen Namen kannte er nicht. Todesschläfer, die als Attentäter arbeiteten, nutzten meist Codenamen. Seiner hatte
Oneiros
gelautet. Der Dämon der Träume.
Durga
hingegen war in der Hindu-Mythologie die wütende Manifestation der Göttin Kali, übersetzt bedeutete der Name so viel wie »die schwer zu Begreifende«.
Besser hätte sie es nicht treffen können.
Ähnlich wie Konstantin bei einem Auftrag an Jester geraten war, so war es ihm auch mit den
Phansigar
ergangen. Ihre Begegnung war ungewollt und verlief gewaltsam.
Wo der MI 6 -Mann allerdings Humor zeigte, hatten die Inder weniger Sinn für kollegiale Konkurrenz. Abgesehen von Durga, mit der er eine leidenschaftliche Affäre gehabt hatte. Eine Art Katz-und-Maus-Spiel, mal liebten sie sich, mal versuchten sie, den anderen in seinem Job zu schlagen, um später wieder gemeinsam im Bett zu landen.
Bei seinem vierten Einsatz in Neu-Delhi waren die
Phansigar
unter Führung von Yama plötzlich aufgetaucht, um ihn auszuschalten. Sie hatten ihn beinahe erwischt. Durga rettete ihn durch einen Trick vor ihren eigenen Leuten.
Würden sie davon erfahren, würden sie sie, ohne zu zaudern, bestrafen. Aufs schwerste.
Mit seinem Ausstieg vor zwei Jahren hatte er den Kontakt zu ihr abgebrochen. Zu ihrem Schutz, zu seinem eigenen Schutz. Oder aus welchen Gründen auch immer.
Manchmal hatte Konstantin es bereut, nicht bei Durga geblieben zu sein und sie überredet zu haben, mit ihm auszusteigen. Es war etwas Besonderes, eine Beziehung mit jemandem zu haben, der verstand, was es bedeutete, ein Todesschläfer zu sein. Es machte ihren Fluch für die Umgebung nicht weniger gefährlich, eher im Gegenteil, da sich gleich zwei Personen mit der tödlichen Gabe an einer Stelle aufhielten, doch man konnte mehr aufeinander achten.
Mach dir nichts vor. Wenn wir zusammen ausgestiegen wären, hätten die Phansigar uns beide gejagt und unsere Körper zerstört.
Durga war … so ganz anders als Iva. Als Konstantin an Iva dachte, entstand ihr Bild vor seinen Augen und verdrängte die Erinnerungen an die Inderin, als wollten ihm seine Gefühle zeigen, wer in der Gegenwart die Oberhand über sein Herz und seine Seele hatte.
Er riss sich zusammen und bemühte sich, seine Gedanken auf die aktuellen Probleme zu lenken. Er kannte Durga zu gut. Sie log ihn nicht an. Und so blieb eine simple, doch wichtige Frage ohne Antwort:
Weswegen behauptet Jester, dass die Phansigar hinter Arctander her sind?
Vermutlich wollte sein Freund noch mehr Druck aufbauen, um ihn zum Einlenken und damit zur Jagd auf Arctander zu bewegen.
Ich verstehe es, aber nett ist es nicht.
Konstantin spürte das Gewicht des Laptops in der Tüte und entschied, Jester den Computer und die Speicherkarten erst mal nicht zu überlassen. Er hatte ihm
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