Onkel ist der Beste
Neuseeland waren Onkel Robert noch immer nicht ganz geheuer. Ende April sah es so aus, als wolle der Winter sie mit Gewalt überfallen; es stürmte nur so. Im Mai gab es strenge Fröste. Das machte Judy Sorgen. »Für Fröste ist es noch zu zeitig. Das Futter wird vor dem Lammen knapp werden«, sorgte sie sich und arbeitete draußen noch härter als sonst.
»Jetzt haben wir einen tüchtigen Verwalter, und Judy scheint trotzdem nicht mehr Ruhe zu haben«, klagte ihr Onkel, und Dora gab ihm recht.
»Sie arbeitet zu viel — das hat sie immer schon getan. Da aber Colin alle möglichen Reparaturen ausführt, muß doch jemand die tägliche Runde bei den Schafen machen.«
»Ich komme mir so untätig vor. Ich wünschte, ich könnte euch mehr helfen.«
»Du tust sehr viel — und bei diesem Wetter darfst du nicht hinaus. Wenn du es trotzdem versuchst, rufe ich einfach Doktor Gresham an! Na, wie würde dir das gefallen?«
»Gar nicht. Mir scheint, er kommt ohnehin oft genug, ohne daß man ihn ruft«, gab er zurück, denn er war nicht imstande, für Dr. Gresham Wohlwollen aufzubringen.
Seit seinem ersten Besuch hatte es in ihrer Nachbarschaft offenbar viele Erkrankungen gegeben. Der Doktor kam sehr häufig, und Robert sah dies mit einem Mißtrauen, das durch die unselige Erinnerung an ihre erste Begegnung nicht gerade vermindert wurde.
»Ja, er kommt fast so häufig wie Elsa«, meinte Dora resigniert. Mrs. Ward war beinahe das für sie geworden, was sie »fast zur Familie gehörig« nannte. Immer kam sie unangemeldet, blieb aber ein ganzes Wochenende. Robert fand sie anregend, aber ermüdend. Die anderen fanden sie nur ermüdend, außer Judy, deren Groll immer deutlicher wurde.
»Strotzt vor Energie und hilft uns nicht mal beim Geschirrspülen«, sagte Judy eines Abends, als sie und Terry sich einem wahren Berg von Geschirr gegenübersahen.
»Und immer ist sie da. Wirklich, diese plötzlich erwachte Zuneigung zu deiner Mutter ist verdammt beängstigend.«
»Unheimlich! Und Onkel Robert hat keine Ahnung. Der Arme tappt direkt in die Falle.«
Der »Arme« betrat eben rechtzeitig die Küche, um ihre letzten Worte aufzufangen. Robert hatte immer öfter seine Hilfe beim Geschirrspülen angeboten, welche Arbeit sich, wie ihm schien, seltsam häufte. »Ich und ein Armer? Na...«
Judy sah schuldbewußt drein und sagte bloß: »Mach dir keine Gedanken wegen des Geschirrs, Onkel Robert. Geh und halte Mrs. Ward im Zaum.«
Elsa hatte ihnen vor einem Monat ein Exemplar ihres ersten Romans mitgebracht. Robert hatte das Buch nur mit Mühe zu Ende gelesen, da er für moderne Autoren nichts übrig hatte. Dora sagte, ihr gefielen die neuen Romane nicht. In ihrer spärlichen Freizeit las sie immer wieder die Klassiker, mit denen sie aufgewachsen war. »Die gefallen mir. Ich verstehe Jane Austen, Trollope und Dickens, aber die Romane, die Judy so liest, mag ich nicht.«
Judy las alles, nur nicht die Bücher aus dem Schrank ihrer Mutter. »Davon habe ich in der Schule genug mitbekommen«, sagte sie zu ihrem Onkel. Sie las alles, was die Bibliothekarin in Marston ihr schickte: Biographien, Reißer, zeitgenössische Romane. Judy machte keine Handarbeiten, und bis auf ein gelegentliches Gesellschaftsspiel mit Terry las sie den ganzen Abend und dann noch lange im Bett.
Terrys Geschmack war allumfassend. Er pflegte sich Judys Leihbücher vorzunehmen und sich mit ihr darüber zu unterhalten. Seine wahre Neigung aber galt den älteren Autoren und besonders den Dichtern der nachviktorianischen Ära. Immerhin war er von allen dreien der beste Leser. Er wäre gern Journalist geworden, wie er Robert einmal beiläufig verriet.
Zusammen mit Robert stellte die Familie einen repräsentativen Querschnitt durch den literarischen Geschmack dar. Es war daher ein Jammer, daß keiner von Mrs. Wards Roman besonders angetan war. Robert kämpfte sich heldenhaft durch und zog bei der Lektüre hin und wieder die Brauen hoch. Dora meinte seufzend, daß Elsa sehr gescheit sei und sich die ungewöhnlichsten Menschen ausdenken könne. Terry lachte nur und tat das Werk achselzuckend als »typischen Frauenroman« ab, was Judy in Rage brachte.
Sie selbst, die die Autorin nicht mochte, wie sie offen zugab, hatte noch die beste Meinung von dem Buch. »Eigentlich hätte es sich besser verkaufen müssen — aber die liebe Elsa packt einfach zuviel hinein. Damit will ich sagen: entweder ein nettes Buch für >Tante Emma< oder aber etwas Gewagtes. Jedenfalls muß man
Weitere Kostenlose Bücher