Onkel Wanja kommt
Koffer meines Onkels hinter dem Zeitungsständer neben dem Ausgang zu platzieren. Mein Onkel setzte sich mit sichtbarer Erleichterung an den Tresen. Ich blätterte die Speisekarte durch auf der Suche nach einem passenden Getränk. Der naive Glaube meines Onkels, wir würden in einem Berliner Café etwas umsonst bekommen, wunderte mich überhaupt nicht. Ich verbuchte diesen Glauben als eine Art Sehnsucht nach den verlorengegangenen Errungenschaften des Sozialismus. In der Sowjetunion hat man keinen Kult aus Essen gemacht, es gab zwar nie zu viel, doch einiges gab es tatsächlich umsonst. Bereits ab den Sechzigerjahren war zum Beispiel das Brot in den russischen Kantinen kostenlos. Es lag dickgeschnitten auf großen Tabletts neben der Kasse oder auf Tellern auf dem Tisch. Auch Salz, Pfeffer und Senf gab es umsonst dazu.
Mein Onkel, ein Mann bescheidener Bedürfnisse und noch bescheidenerer Einkünfte, mochte die kommunistischen Senfstullen sehr. Er ging in die Kantine, schmierte sich Senf aufs Brot, bestellte aus der Küche heißes Wasser oder sogar richtigen Tee dazu, den es ebenfalls kostenlos gab, und dachte, dies sei der Kommunismus. In seinem Weltbild konnte es sowieso nichts Besseres als diesen Senfbrotkommunismus geben, und der war längst eingeführt. Sein Freund und Kollege Gruber, ein Russlanddeutscher, nahm ebenfalls beim Mittag in der Kantine der Schiffsbauer am Hafen jedes Mal ein halbes Stück Brot und legte den Rest zurück auf den Brotteller. Iss gefälligst alles, drohten ihm seine Kumpel. Gruber aber meinte, nein, er brauche nur die Hälfte. Solle doch ein anderer Hungriger die andere Hälfte nehmen.
Natürlich gab es auch in diesem Kommunismus Missbrauchsfälle. Manchmal kamen Zigeuner und aßen das ganze Brot weg, den Senf nahmen sie mit. Oder ideologisch Schwache versuchten, ihre Taschen mit Broten zu füllen, um Vögel im Park damit zu füttern, oder irgendwelche Kinder bewarfen einander aus Langeweile mit Brotkugeln. Trotz all dieser Widrigkeiten hat sich der Brauch, bestimmte Lebensmittel kostenlos anzubieten, sehr lange gehalten – bis diese von Menschen konstruierte Welt zusammenbrach und das Brot, der Senf sowie die Kantinen verschwanden. Seitdem gibt es in Russland nicht einmal mehr einen Fliegenschiss für umsonst.
Inzwischen weint kaum noch jemand dem Senfkommunismus eine Träne nach. Es ist allerdings noch zu früh, um beurteilen zu können, ob sich das Ganze im Geringsten gelohnt hat und ob überhaupt noch irgendetwas aus dieser Zeit bewahrenswert ist. Ein Löffel Senf? Ein Brotkrümel? Das Böse der vergangenen Zeit ist mit dem Guten verwachsen, einer Menschenhand wird es nicht mehr gelingen, sie voneinander zu trennen. Es wird mit der Zeit immer weniger Menschen geben, die sich an den Geschmack der sozialistischen Produkte genau erinnern. Aus ihrer Nostalgie schlägt man Kapital, ihre eigene Vergangenheit wird ihnen quasi noch einmal als belegte Stulle angeboten. Russische Lebensmittelläden sind voll von Nostalgie-Produkten, von Schokoladentafeln, Wurst oder Käse mit dem Etikett »Genau wie damals«. Es wird mit solch hinterhältigen Sprüchen geworben wie »Längst vergessener Geschmack Ihrer Jugend« oder »Die authentische sowjetische Wurst« oder »Das Frühstück Ihrer Kindheit«. Doch alle diese Produkte sind Fälschungen, sie sehen anders aus, sie riechen anders, und schmecken tun sie überhaupt nicht. Sie wurden nicht aus Träumen von einer besseren Welt, sondern aus Gier und Pragmatismus gebacken.
Sowjetische Lebensmittel waren dagegen aus einer Ideologie entstanden und deswegen leicht verderblich. Die Produkte hielten nicht lange, das frische Brot war schon am nächsten Tag trocken, während ein westliches Gummibrötchen wochenlang bei uns auf dem Kühlschrank liegen kann, ohne sich äußerlich zu verändern. Die Haupteigenschaft der damaligen Lebensmittel war ihre Zartheit, fast Durchsichtigkeit, als würden sich diese Produkte genieren, zu existieren. Jede Sekunde drohten sie zu verschwinden. Sie kosteten nichts, kamen aus dem Nichts und hatten bloß eine Aufgabe: das Volk mehr oder weniger fit durch die damals angekündigte Übergangsphase vom entwickelten Sozialismus zum Kommunismus zu bringen. Kurzum, es waren Wundermittel. Wie zu Moses’ Zeiten, als plötzlich mitten in der Wüste nahrhafte Delikatessen – Manna – auf das Volk niederregneten, oder später, als Jesus gewöhnliches Wasser in guten Wein verwandelte und eine ganze Hochzeitsfeier damit
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