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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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kalt zu duschen, viel zu schlafen und lange Spaziergänge an der frischen Luft zu unternehmen. Und keine ungewaschenen Früchte von unbekannten Bäumen zu naschen, weil solche Früchte schwer im Magen liegen.
    Mein Onkel und ich grüßten unsere Gastgeber noch einmal laut und herzlich und machten uns zu Fuß auf den Weg.

Touristen in ihrer natürlichen Umgebung
    Ich war froh, dass die Erzengel vom Döner-Paradies uns nicht für Touristen gehalten hatten, trotz des Koffers meines Onkels und seiner mangelnden Sprachkenntnisse. Mit Touristen hätten sie sicher nicht so offen und freundlich gesprochen, dachte ich. Überall auf der Welt werden Touristen verschmäht, in dieser Hinsicht ist Deutschland keine Ausnahme. Besonders die Berliner reagieren oft misstrauisch, wenn ihnen große Touristengruppen begegnen. Obwohl Letztere Geld in die Stadt bringen, die Konsumkraft steigern und angeblich die städtische Wirtschaft ankurbeln, wird ihre Leistung nur zähneknirschend geduldet. Die Einheimischen fürchten, durch die Entwicklung des Tourismus werde ihre Lebensqualität beeinträchtigt.
    Touristen zählen zu den unbeliebtesten Bevölkerungsgruppen. Neben Versicherungsvertretern, Schuldeneintreibern und Börsenspekulanten gehören sie gewissermaßen zur Achse des Bösen. Meist werden sie von den Einheimischen als wandelnde Geldbeutel wahrgenommen, die man entweder ausrauben oder denen man irgendetwas völlig Unnützes andrehen kann. Touristen sind daran schuld, dass so viel pseudofolkloristischer Trash produziert wird. Ohne Touristen gäbe es in Russland längst keine Balalaikas, Samoware und Matroschkas mit Gorbatschow-Gesicht mehr. In Deutschland sind Touristen die einzigen Abnehmer für Riesenbiergläser und Berliner Bärchen. Sie sind auch die einzigen, die gerne Steine kaufen. In Berlin ein Stück von der DDR -Mauer, in Israel ein Steinchen von der Klagemauer. Sie nehmen auch gern ein Stückchen vom Kreuz Jesu mit, um ihn auf diese Weise in die Welt zu bringen. Aus China nehmen sie ebenfalls ein Stückchen (chinesische) Mauer mit und kleine, ewig mit einer Pfote winkende Plastikkatzen, die angeblich Glück bringen. Sie kaufen Masken in Venedig, aus Holz geschnitzte Elefanten in Afrika und tonnenweise mit der Hand genähte Tischdecken aus diversen Orten rund um die Welt, wo die Einwohner zu doof oder zu faul waren, sich eine Mauer zu bauen oder eine andere originellere folkloristische Betätigung zuzulegen.
    Was sind das überhaupt für Leute, die ohne eine Einladung in die Fremde ziehen, dorthin, wo sie niemanden kennen, wo niemand sie kennt, niemand sie sehen will, niemand sie liebt, niemand auf sie wartet? Dort, wo Touristen auftauchen, gehen die normalen bürgerlichen Geschäfte ein. Statt Wohnhäusern werden entweder billige Herbergen oder teure Hotels gebaut, statt Läden des täglichen Bedarfs sprießen Souvenirshops aus dem Boden. Das Essen in den Gaststätten wird teuer und schlecht, in der Bäckerei werden statt menschentauglicher Brötchen für 0,20 Euro irgendwelche »Berliner Touristenherzkuchen« mit glasiertem Bärchen für 3,99 Euro verkauft. Die Einwohner meutern. In Berlin Kreuzberg werden beinahe jedes Jahr Unterschriften gegen Touristen gesammelt. Die Kreuzberger fühlten sich erst wie im Zoo. Sie wollten nicht von Fremden begafft werden – nur die Punker nahmen fürs Fotografiertwerden Geld. Heute sind sie alle damit beschäftigt, die Touristen, die keine Notiz mehr von ihnen nehmen, unterbezahlt zu bedienen.
    Dabei sind Touristen keine bösen Menschen, sie meinen es gut mit der Welt. Es ist bloß die Neugier, die Suche nach dem Paradies, die sie vorantreibt. Vielleicht ist es auch die Angst, etwas sehr Wichtiges und Schönes im Leben zu verpassen, oder umgekehrt die Lust, sich selbst und seinen Freunden zu beweisen, dass es zu Hause doch am schönsten ist. Anderseits ist es beruhigend zu erfahren, dass es anderswo nicht viel anders ist, dass die Menschen vor derselben Glotze hängen, dieselben Programme, dieselben Serien anschauen, nur in einer anderen Sprache. Überall auf der Welt sitzen Menschen bei Sonnenschein gerne draußen und trinken Kaltgetränke, abends gehen sie aus, und wenn sie in einem Stau stehen, hupen sie wie verrückt. Und überall auf der Welt schimpfen sie auf die Touristen. Die laufen mit Wasserflaschen und Fotoapparaten durch die Gegend, schauen den Einheimischen bei jeder Gelegenheit ins Fenster, wenn die Vorhänge im Erdgeschoss zurückgezogen sind, und knipsen alles, was

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