Onkel Wanja kommt
»Verdienter Tourist der Sowjetunion« bekommen, ein kleiner Anstecker, dazu ein kleines Büchlein, in dem in fetter Schrift aufgelistet war, wo ich sonst noch überall hochklettern durfte – in den Grenzen meines Heimatlandes selbstverständlich.
Die Lust, sich fortzubewegen, sich zu beweisen, dass man trotz der eigentlichen Unmöglichkeit des Reisens nicht in einer toten, stehengebliebenen Welt lebte, war stark. Ich kannte viele, die jede Woche mit dem Zug hin und her fuhren, egal wohin. Hauptsache, die Räder rollten unter ihrem Sitz. Sie kauften sich für ihr letztes Geld eine Fahrkarte und fuhren am Wochenende so weit fort, wie es ging, nur um gleich nach der Ankunft wie der nach Hause zu fahren. Bei einem Arbeitskollegen meines Vaters hat sich dieser Reisezwang sogar zu einer schlimmen Reisepsychose entwickelt. Er konnte es keine zwei Tage an einem Ort mehr aushalten. Er wurde als Invalide vom Staat anerkannt und bekam eine Invalidenrente, die er voll und ganz für Zugfahrkarten verbrauchte. Zu uns kam er, um sich zu waschen, und zwar jedes Mal, wenn er in Moskau umsteigen musste. Ich erinnere mich gut: Ich kam von der Schule, er stand am Fenster im Treppenhaus und fragte nervös: »Ist dein Papa da?« Mein Vater kam immer erst spätabends von der Arbeit, und während seiner Abwesenheit traute sich sein seltsamer Gast nicht, uns zu belästigen. Erst mit meinem Vater zusammen betrat er unsere Wohnung – und verschwand sofort im Bad. Meinem Vater war diese Freundschaft peinlich. Noch peinlicher war ihm allerdings, seinen Freund nicht mehr reinzulassen. So hielt er die ganze Zeit vor der Tür des Badezimmers Wache, während sein Freund, der ewige Tourist, sich drinnen auf eine weitere Reise vorbereitete.
Weil dieser sowjetische Tourismus eine Flucht vor der Realität des Alltags war, vergaß die sonst ziemlich vergessliche Planwirtschaft der Sowjetunion nie, stets in überausreichendem Maße touristisches Zubehör zu produzieren. All die Zelte, Kannen, Sperrholzgitarren, Gummistiefel, reißfesten Jacken mit Kapuze, im Volk beliebte Konserven mit so appetitlichen Namen wie »Das Touristenfrühstück«, alle diese Waren erfreuten sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung. Rückblickend denke ich heute, wir waren damals alle irgendwie Touristen. Fremde im eigenen Land, die sich in einem Vakuum bewegten. Die Welt um uns herum war leer.
Unser bekanntester und bemitleidenswertester Tourist war natürlich Jurij Gagarin, der erste Mensch, der uneingeladen ins Weltall geflogen war, um ein paar Fotos von der ewigen Kälte zu knipsen. Wie einsam er sich auf dieser Reise gefühlt haben musste! Sein Flug war riskant, man wusste nicht hundertprozentig, ob er jemals zurückkommen würde. Keines der Experimente, die im Vorfeld seines Fluges stattgefunden hatten, ergab eindeutige Ergebnisse. Die Russen hatten damals nicht gleich einen Menschen ins All geschossen, sondern zunächst bloß Pflanzen, um zu sehen, wie es mit dem Sauerstoffwechsel dort oben klappen würde. Danach flogen Fliegen, später Hunde und jede Menge technische Geräte. Das Schicksal all dieser Geräte und Lebewesen war nicht jedes Mal gleich. Manche Tiere überlebten, manche starben, manche technische Geräte gingen kaputt. Irgendwann einmal war der Mensch an der Reihe. Ich stelle mir vor, wie er in seiner Kapsel in lebenserhaltende Schläuche gewickelt hin und her schwebte und nachdenklich aus dem Bullauge in den dunklen, endlosen Kosmos schaute. Tote Fliegen und ausgetrocknete Pflanzen schwebten an ihm vorbei, kaputte technische Geräte und mumifizierte Hunde, sonst nichts. Nur ein dunkler gastfeindlicher Weltraum, in den uns keiner eingeladen hatte. Der Kosmonaut musste sich sehr einsam da oben gefühlt haben und heilfroh gewesen sein, heil wieder zurück nach Hause gekommen zu sein.
Als unsere ideologischen Mauern fielen und die russische Gesellschaft sich öffnete, waren unsere Touristen nicht mehr auf Wälder und Berge angewiesen. Sie fuhren in die große weite Welt und verwirrten ganz sicher die Hotelkräfte des Westens mit ihrer Ausrüstung. Es gab nämlich viele Wunder der Technik in den russischen Rucksäcken. Allein der transportable russische Teewasserkocher sorgte in der Fremde schon für große Missverständnisse. Dieser Wasserkocher ist nichts anderes als ein Stück Draht mit einem Elektrokabel. Ein Ende wird in die Tasse mit Wasser gesteckt, das andere in die Steckdose. Jedes Kind im Westen weiß: Elektrogeräte haben in Wasser nichts
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