Onkel Wanja kommt
sich ihnen in den Weg stellt. Sie kommen unangemeldet und würden einem sicher, wenn man die Wohnungstür offen ließe, auch noch ins Schlafzimmer schauen, in den Kühlschrank kucken, ins Bad, überallhin – man kann nichts dagegen tun.
Engländer schauen sich in Deutschland zum Beispiel am liebsten die Bunker und die Keller an, wo der Führer die letzte Nacht verbrachte und die Alliierten im Zweiten Weltkrieg die Deutschen bombardierten. Russen buchen gerne in Zürich die sogenannte Lenin-Route, alles Orte, an denen der Führer der russischen Revolution in großer Verzweiflung nach Geld und Kameraden suchte. Die Franzosen, deren Küche als Weltkulturerbe anerkannt ist, haben wiederum eine ganz neue Dienstleistung für Touristen entwickelt, die ihrer Kultur perfekt entspricht. Man kann sich bei einer echten französischen Familie zum Essen einladen lassen. Die Franzosen kochen angeblich gerne, und bei jeder großen Familie, bei der mindestens zehn Leute am Tisch sitzen, bleibt immer etwas Essen übrig. Da fallen ein paar Touristen gar nicht ins Gewicht. € 65,– pro Nase kostet der Spaß, in einer echten französischen Familie Mittag zu essen. Man muss sich natürlich rechtzeitig anmelden, alle mögliche Krankheiten und Allergien offenlegen, man darf im Nachhinein nicht meckern und nichts für die Oma mit nach Hause nehmen. Touristen aus der ganzen Welt stehen Schlange, um mit echten Franzosen zusammen zu essen. Es ist übrigens wissenschaftlich bewiesen, dass der Körper das Essen besser aufnimmt, wenn man es in größerer Gesellschaft zu sich nimmt, am besten in Anwesenheit des Kochs. Mit echten Franzosen an einem Tisch schmeckt das französische Essen bestimmt besser – so wie es sich auch zusammen mit echten Finnen in der Sauna besser schwitzen lässt.
Heuschrecken gleich überfallen erlebnishungrige Touristen jedes Land und beuten seine Einheimischen, seine Sehenswürdigkeiten und seine Eigenheiten aus. In Amerika scheint der Endzeittourismus große Mode zu sein: Die Amis haben alle Hotels in Mexiko zum Ende des Maja-Kalenders ausgebucht, sie wollen das Ende des Kalenders, das mit dem Ende der Welt einhergehen soll, aus dem Parterre anschauen, von dort, wo der Kalender zusammengesetzt wurde. Die risikofreudigen Russen reisen am liebsten zu den heißen Punkten des Planeten, dorthin, wo von Unruhen die Rede ist. Naturkatastrophen, Revolutionen, überhaupt Krisen können jeden Kurort zum Schnäppchen machen. Die russischen Touristen fuhren beispielsweise sofort nach Ägypten, als dort nach der Revolution die Hotelpreise fielen und die Strände leer waren. Der ägyptische Touristenminister trat im russischen Fernsehen mit einer Ansprache auf:
»Ganz egal, wie sich das Land politisch entwickeln mag, am Strand wird nicht gekämpft, das Wasser wird blau und klar, die Fische bunt, die Sonne rot bleiben. Russian people! Please, come back!«, beschwor er die Russen.
Früher hatte der Tourismus in Russland eine ganz andere Bedeutung. Sowjetische Touristen konnten keine fremden Länder bereisen, selbst in ihrem eigenen Land durften sie nicht überall hin. Anstatt fremde Menschen zu belästigen, suchten sie sich deshalb Orte aus, wo es außer ihnen niemanden gab. Sie gingen in den Wald, sie bauten Katamarane, um die wilden Seen hoch- und runterzufahren, oder sie bestiegen unwirtliche, steile Berge. Statt mit Vollpension und Fotoapparat waren sie mit Rucksack und Gitarre unterwegs. Der Sinn dieser Form des Tourismus war, sich selbst und der Welt die eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren, zu beweisen, dass man sich weder von einer Ideologie noch von irgendeiner Weltordnung unterdrücken ließ. Es war eine Flucht in die Freiheit. Die Touristen wärmten sich am Lagerfeuer, lagen in Schlafsäcken auf der Erde, sammelten Pilze und Beeren, angelten wilde Fische, und wenn sie nichts an den Haken kriegten, kochten sie sich eine Suppe aus den dicken Mücken, die es in jedem russischen Wald millionenfach gab. Über diese Touristen wurden Lieder geschrieben, ihnen wurden Filme gewidmet und sogar ein romantisches Ballett namens Verloren in der Taiga aufgeführt.
Der sowjetische Staat hat selbstverständlich alles versucht, um den wilden Tourismus unter Kontrolle zu halten. Zu diesem Zweck wurden spezielle staatlich gelenkte Touristenverbände gegründet und sogar Medaillen und Auszeichnungen an junge Touristen verliehen. Ich habe selbst nach der Besteigung des Gawerla, eines Berges in den Karpaten, die Auszeichnung
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