Onkel Wanja kommt
die diese Mauer für die größte Sehenswürdigkeit der Deutschen halten. Alle bewundern sie: amerikanische Rentner, italienische Schüler und japanische Arbeitnehmer auf Urlaub. Nur die Chinesen fehlen, wahrscheinlich weil sie selbst eine viel größere Mauer haben und vom fragwürdigen Wert solcher Sehenswürdigkeiten wissen – nicht nur vom Hörensagen.
Ich habe diese Mauer nie selbst gesehen, wir haben uns verpasst. Sie war schon weg, als ich kam. Trotzdem werde ich zu beinahe jedem Mauerfalljubiläum interviewt. Denn irgendwie habe ich zur Mauer eine Beziehung. Unsere Schicksale haben sich auf geheimnisvolle Weise verbunden, ja, möglicherweise wäre ich nie in Berlin gelandet, wäre sie nicht abgerissen gewesen. Natürlich sind dies nur Mutmaßungen, niemand kann sagen, was hätte sein können, wenn. Aber man will es trotzdem wissen. Deswegen werde ich stets zur Mauer befragt. Als Erstes geht es immer um Heimweh, ob ich welches habe. Und ob ich mich überhaupt an damals erinnere, und ob alles schlecht war im Sozialismus und wie die Welt aussehen würde, wenn es anders gekommen wäre.
»Jede Zeit hat ihr eigenes Denken, ihre eigene Mauer«, antworte ich. »Wir sind alle durch den Fleischwolf der Zeit gedreht worden, es führt kein Weg zurück. Lassen Sie uns lieber über die Zukunft nachdenken«, sage ich und zitiere eine Zeile aus dem Lied der russischen Janis Joplin, »Oh yeah – man kann das Gehackte nicht rückwärts drehen, aus einer Bulette wird nie wieder eine Kuh entstehen«.
Dabei fühle ich mich tatsächlich wie eine Kuh oder eher wie eine Bulette, die zu ihrer Herkunft interviewt wird:
»Erzählen Sie uns doch bitte, wie war das damals, als Sie noch ein junges Rind waren?«
»Also, erst einmal war ich damals zu 50 % ein Schwein und zu 20 % Pute. Aber ich erinnere mich mit all meinen Teilen an das frühere Lebensgefühl. Früher war alles besser!« So würde es die alte Bulette wahrscheinlich formulieren.
Die Berliner Mauer und ich sind Nachbarn, ich wohne direkt am Mauerpark, und wenn ich auf dem Balkon die Blumen gieße, habe ich diese Sehenswürdigkeit quasi stets vor Augen. Jeden Tag bleiben Busse mit Schülern und Touristen vor dem Park stehen, und der Souvenirladen ist gleich um die Ecke. Dort werden Postkarten, sowjetische Militärmützen oder Matrioschkas mit Gorbatschows Gesicht verkauft. Warum? Weil jeder Deutsche weiß, dass Michael Gorbatschow, der siebte sowjetische Generalsekretär, die Mauer geöffnet und dabei kryptisch verkündet hatte: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Das ist die ostdeutsche Version. Die Wessis denken, Bundeskanzler Kohl – ich weiß nicht, der wievielte Bundeskanzler er war, ist auch egal – habe durch seine extreme Schläue die politische Wende eingeleitet. Die Russen wiederum denken, die Amerikaner seien an allem schuld. In Amerika weiß jedes Kind, dass der 40. amerikanische Präsident, Ronald Reagan, die Mauer geöffnet hat. Er war der Oberbefehlshaber des »Cold War«, des einzigen Krieges nach 1945, den die Amerikaner uneingeschränkt gewonnen haben. Reagan kam im Juni 1987 nach Westberlin, kletterte auf eine extra für ihn gebaute Tribüne und wandte sich an die Russen, die er am liebsten als »Imperium des Bösen« beschimpfte. Er sprach direkt an die Adresse von Gorbatschow.
»Wenn Sie wirklich eine Liberalisierung und Fortschritt für Ihr Land und für andere Länder möchten, dann kommen Sie hierher. Mister Gorbatschow, öffnen Sie diese Tür! Reißen Sie die Mauer nieder.« Das hat Reagan gesagt.
Doch Gorbatschow kam nicht, und die Tür blieb erst einmal zu. Ich glaube, es lag daran, dass Reagan stark nuschelte. Und das hat Gorbatschow, der selbst ja auch nuschelte, sehr irritiert. Wenn sie aufeinandertrafen oder miteinander redeten, dachte Gorbatschow wahrscheinlich, der amerikanische Kollege wolle ihn verspotten und nuschle ihm deswegen nach. Als sie sich drei Jahre später in Moskau trafen und auf dem Roten Platz in Gesellschaft von Journalisten und Fotografen spazieren gingen, drückte Reagan Gorbatschows Hand und sagte, er halte ihn und sein Land nicht mehr für das Imperium des Bösen, es war ja auch fast nichts davon übrig geblieben. Dann forderte Reagan Gorbatschow noch einmal laut auf, die Tür zu öffnen und die Mauer niederzureißen. Er hatte damals schon Alzheimer und vergaß manchmal, dass die Mauer schon vor einem Jahr gefallen war, unter dem Druck der wild gewordenen Ostberliner in Stein und Staub zerspechtet.
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