Onkel Wolfram - Erinnerungen
Werbung auf der Rückseite. Mein Lieblingsstück war eine seltsame serbokroatische Marke aus dem Jahr 1914, die angeblich die Züge des ermordeten Erzherzogs Ferdinand aus einem bestimmten Blickwinkel zeigte.
Am meisten hing ich jedoch an meiner einzigartigen Sammlung von Busfahrkarten. Wenn man damals in London mit dem Bus fuhr, erhielt man ein farbiges längliches Stück Pappe mit Buchstaben und Zahlen darauf. Nachdem ich eine O 16 und eine S 32 erhalten hatte (meine Initialen und zugleich die Symbole für Sauerstoff und Schwefel - dank eines glücklichen Zufalls auch noch mit ihren Atomgewichten verknüpft), beschloss ich, eine Sammlung «chemischer» Busfahrkarten anzulegen. Ich wollte sehen, wie viele der zweiundneunzig Elemente ich zusammentragen konnte. Dank eines außerordentlichen Glückes, wie mir schien (obwohl es reiner Zufall war), wuchs meine Sammlung rasch an, und bald war sie komplett (W 184, Wolfram, bereitete mir noch einmal besonderes Vergnügen, nicht zuletzt, weil es doch meinem Mittelinitial entsprach). Natürlich gab es auch schwere Fälle: Chlor hatte dummerweise ein Atomgewicht von 35,5. Und die Fahrkarten boten nur ganze Zahlen. Doch ich wusste mir zu helfen: Als ich eine Cl355 bekam, fügte ich mit Tinte ein winziges Dezimalkomma hinzu. Die Einzelbuchstaben waren leichter zusammenzukriegen - schon bald hatte ich neben der ursprünglichen O 16 eine H l, eine B11,C12, N14 und F19. Nachdem mir klar geworden war, dass die Atomzahlen wichtiger sind als die Atomgewichte, begann ich auch diese zu sammeln. Schließlich hatte ich alle bekannten Elemente zusammen, von H l bis U 92. Jedes Element verband sich für mich unauflöslich mit einer Zahl und jede Zahl mit einem Element. Stets trug ich meine kleine Sammlung chemischer Busfahrkarten mit mir herum; sie gab mir das wunderbare Gefühl, das ganze Universum oder zumindest seine Bausteine, auf den Raum weniger Kubikzentimeter reduziert, in der Tasche zu haben.
KAPITEL ACHT
STINKEN UND KNALLEN
Angelockt von den Geräuschen, Blitzen und Gerüchen in meinem Labor, beteiligten sich David und Marcus, die jetzt Medizinstudenten waren, gelegentlich an meinen Experimenten dabei spielte der Altersunterschied von neun und zehn Jahren kaum eine Rolle. Als ich einmal mit Wasserstoff und Sauerstoff experimentierte, gab es eine laute Explosion, und eine fast unsichtbare Feuerwand verbrannte Marcus' Augenbrauen vollständig, doch er nahm es gelassen. Und häufig schlugen David und er neue Experimente vor.
Wir mischten Kaliumperchlorat mit Zucker, stellten das Gemisch auf die Hintertreppe und schlugen mit einem Hammer darauf. Es folgte eine höchst beachtliche Explosion. Gefährlicher war es bei Stickstofftrijodid, das wir leicht herstellen konnten, indem wir konzentriertes Ammoniak zu Jod gaben, das Stickstofftrijodid in Filterpapier auffingen und mit Äther trockneten. Das Stickstofftrijodid erwies sich als unglaublich berührungsempfindlich. Man brauchte nur mit einem Stock daran zu kommen - einem langen Stock (sogar eine Feder genügte) - und schon explodierte es mit Heftigkeit.
Gemeinsam schufen wir uns mit Ammoniumdichromat einen «Vulkan», indem wir eine Pyramide der orangefarbenen Kristalle ansteckten: Sie flammte gewaltig auf, wurde rotglühend, spie Funkenschauer in alle Richtungen und schwoll bedrohlich an. Eben wie ein ausbrechender Miniaturvulkan. Nachdem das Feuer schließlich erloschen war, blieb anstelle der hübschen Pyramide aus Kristallen ein lockerer Haufen aus dunkelgrünem Chromoxid zurück.
Bei einem anderen Experiment, das David vorschlug, gossen wir ölige, konzentrierte Schwefelsäure über ein wenig Zucker, der sich augenblicklich schwarz färbte, sich erhitzte, dampfte, expandierte und eine monströse Masse aus Kohlenstoff bildete, die über den Rand des Bechers quoll. «Vorsicht!», sagte David, während ich fasziniert auf diese Verwandlung starrte. »Auch du wirst zu einer Kohlenstoffsäule, wenn du mit der Säure in Berührung kommst!» Und dann erzählte er mir, wahrscheinlich erfundene, Horrorgeschichten von Vitriolattentaten im Eastend und Patienten, deren Gesichter vollkommen weggeätzt waren. (Ich hatte meine Zweifel in Bezug auf seine Glaubwürdigkeit, denn als ich kleiner war, hatte er mir erzählt, wenn ich die Kohanim anblicken würde, während sie uns in der Schul (Synagoge) segneten - ihre Köpfe blieben dabei durch den großen Gebetsschal, den Tallis, verhüllt, weil sie in diesem Augenblick von Gottes blendendem
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