Onkel Wolfram - Erinnerungen
es hatte keinen Deckel mehr, und ein paar Seiten fehlten -, war The Chemical Pocket-Book or Memoranda Chemica aus dem Jahr 1803. Als Verfasser zeichnete ein gewisser James Parkinson aus Hoxton, dem ich in meinen biologischen Tagen als Begründer der Paläontologie wieder begegnen sollte, und dann noch einmal während des Medizinstudiums als dem Autor des berühmten Essay on the Shaking Poky (Abhandlung über die Schüttellähmung) - der Krankheit, die später als Parkinson-Syndrom bekannt wurde. Doch damals - für mich als Elfjährigen - war er einfach der Verfasser des wunderschönen Chemiebüchleins. Es vermittelte mir einen lebhaften Eindruck von der fast explosionsartigen Entwicklung der Chemie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So sprach Parkinson von zehn neuen Metallen - Uran, Tellur, Chrom, Niob, Tantal, Zer, Palladium, Rhodium, Osmium, Iridium -, die alle in den zehn vorangegangenen Jahren entdeckt worden seien.
Griffin vermittelte mir die erste klare Vorstellung von dem, was unter «Säuren» und «Alkalien» zu verstehen sei und wie diese sich zu «Salzen» verbanden. Onkel Dave führte mir den Gegensatz von Säuren und Basen vor Augen, indem er exakt bestimmte Mengen Salzsäure und Ätznatron in einem Becherglas mischte. Die Mischung wurde außerordentlich heiß, doch nach ihrer Abkühlung forderte er mich auf: «Jetzt probier sie!» Das Zeug probieren? War er verrückt? Aber ich tat, wie mir geheißen, und schmeckte nichts als Salz. «Siehst du», erklärte er, «wenn eine Säure und eine Base zusammenkommen, neutralisieren sie sich und verbinden sich zu einem Salz.»
Ob sich dieses Wunder auch umgekehrt ereignen könne, wollte ich wissen. Ließen sich aus dem Salzwasser wieder die Säure und die Base gewinnen? «Nein», sagte Onkel, «dazu wäre zuviel Energie erforderlich. Du hast gesehen, wie viel Hitze sich entwickelt hat, als Säure und Base miteinander reagierten - die gleiche Hitze wäre erforderlich, um die Reaktion umzukehren. Und Salz», fügte er hinzu, «ist sehr stabil. Natrium und Chlor hängen sehr fest zusammen, sodass kein gewöhnlicher chemischer Prozess sie trennen kann. Dazu braucht man einen elektrischen Strom.»
Dies zeigte er mir eines Tages unter dramatischen Begleitumständen, indem er ein Stück Natrium in ein Glas voll Chlor legte. Es gab eine heftige Verpuffung, das Natrium entzündete sich und brannte unheimlich in dem gelbgrünen Chlor - doch als der ganze Spuk vorüber war, war das Ergebnis nichts als gewöhnliches Salz. Ich glaube, danach ist das Kochsalz erheblich in meiner Achtung gestiegen, hatte ich doch gesehen, was für gewaltige Gegensätze sich zu seiner Entstehung zusammenfinden mussten und was für enorme Energien, was für Elementarkräfte in der Verbindung eingeschlossen waren.
Auch hier zeigte mir Onkel Dave, dass das Verhältnis ganz exakt sein musste: 23 Gewichtsteile Natrium und 35,5 Teile Chlor. Diese Zahlen verblüfften mich, denn sie waren mir bereits vertraut: Ich hatte sie in den Tabellen meiner Bücher gesehen. Es handelte sich um die «Atomgewichte» der Elemente. Mechanisch hatte ich sie auswendig gelernt, auf die gleiche gedankenlose Weise, in der man sich das Einmaleins einprägt. Doch als Onkel Dave diese selben Zahlen auf so augenfällige Weise in Beziehung zur chemischen Verbindung zweier Elemente brachte, begann ich mich langsam und fast unbewusst mit dem Problem zu beschäftigen.
Neben meinen Mineralien hütete ich noch eine Münzsammlung - und zwar in einem kleinen Kasten aus glänzend poliertem Mahagoni, mit Türen, die sich wie die Tore eines Spielzeugtheaters öffneten. Er enthielt eine Reihe schmaler Holzeinsätze mit kreisrunden, samtbedeckten Vertiefungen für die Münzen - einige von noch nicht einmal einem Zentimeter im Durchmesser (für Groats, silberne Dreipennystücke und Maundy Money, winzige Silbermünzen, die am Gründonnerstag an die Armen verteilt wurden), andere von fast fünf Zentimetern im Durchmesser (für die Crowns, die ich liebte, und die noch größeren, riesigen Zweipennystücke, die Ende des 18. Jahrhunderts geprägt wurden).
Außerdem pflegte ich Briefmarkenalben, in denen ich besonders die Marken ferner Inseln bevorzugte, Briefmarken mit Bildern exotischer Landschaften und Pflanzen, die virtuelle Reisen ermöglichten. Ich schwärmte für Briefmarken, die Mineralien zeigten, und für solche, die ungewöhnlich waren - dreieckige oder ungezähnte, Exemplare mit umgekehrten Wasserzeichen, fehlenden Buchstaben oder
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