Onkel Wolfram - Erinnerungen
eine chemische Heftigkeit an den Tag legten, ein Bestreben, sich zu verbinden, das man bislang noch nicht erlebt hatte. (Davy war so verblüfft über die Entzündbarkeit von Natrium und Kalium und ihre Fähigkeit, auf Wasser zu schwimmen, dass er sich fragte, ob es nicht Vorkommen der beiden Stoffe unterhalb der Erdkruste gebe, die beim Kontakt mit Wasser explodierten und für die Vulkanausbrüche verantwortlich seien.) Waren die Alkalimetalle überhaupt als echte Metalle anzusehen? Nur zwei Monate später ging Davy diese Frage an:
Die große Zahl von Naturwissenschaftlern, denen man diese Frage gestellt hat, haben sie bejaht. Sie sind sich einig, dass es sich um Metalle handle, was sich an Undurchsichtigkeit, Glanz, Formbarkeit, Leitfähigkeit für Wärme und Elektrizität und am Charakter ihrer chemischen Verbindungen zeige.
Nach diesem Erfolg bei der Isolierung der ersten Alkalimetalle wandte sich Davy den Erdalkalien zu und elektrolysierte sie. Nach wenigen Wochen hatte er vier weitere metallische Elemente isoliert - Kalzium, Magnesium, Strontium und Barium -, alle hoch reaktionsfähig und wie die Alkalimetalle mit Flammen von intensiver Farbe brennend. Offenbar bildeten sie eine weitere natürliche Gruppe.
Reine Alkalimetalle kommen in der Natur nicht vor; genauso wenig wie die elementaren Erdalkalimetalle - sie sind so reaktionsfreudig, dass sie sich augenblicklich mit anderen Elementen verbinden. [23] Man findet lediglich einfache oder komplexe Salze dieser Elemente. Zwar sind Salze in kristalliner Form nicht leitend, doch leiten sie den elektrischen Strom gut, wenn sie in Wasser gelöst oder geschmolzen sind. In der Tat lassen sie sich durch einen elektrischen Strom zerlegen, wobei sich der metallische Bestandteil des Salzes (zum Beispiel Natrium) an einem Pol und das nichtmetallische Element (zum Beispiel Chlor) am anderen sammelt. Daraus folgerte Davy, dass die Elemente im Salz als geladene Teilchen vorhanden seien - wie sonst sollten sie von den Elektroden angezogen werden? Warum ging das Natrium an die eine Elektrode und das Chlor an die andere? Sein Schüler Faraday nannte diese geladenen Teilchen eines Elementes später «Ionen» und unterschied weiter zwischen positiven und negativen Ionen - «Kationen» und «Anionen». Natrium war in seinem geladenen Zustand ein starkes Kation und Chlor, in seinem geladenen Zustand, eines der stärksten Anionen.
Für Davy bedeutete die Elektrolyse eine Offenbarung: Die Materie selbst war kein träger Stoff, der von der «Gravitation» zusammengehalten wurde, wie Newton dachte, sondern eine geladene Substanz, die von elektrischen Kräften zusammengehalten wurde. Chemische Affinität und elektrische Kraft, so vermutete er jetzt, seien ein und dasselbe. Für Newton und Boyle hatte es nur eine Kraft gegeben, die universelle Gravitation, die nicht nur die Sterne und Planeten zusammenhielt, sondern auch die Atome, aus denen sie selbst bestanden. Davy sah nun eine zweite kosmische Kraft, eine Kraft, die nicht weniger wirksam war als die Gravitation, doch auf der Ebene der winzigen Abstände zwischen Atomen - in der unsichtbaren, fast unvorstellbaren Welt der chemischen Atome. Die Gravitation sei, so meinte er, das Geheimnis der Masse, die Elektrizität hingegen das der Materie.
Mit großem Vergnügen führte Davy Experimente öffentlich vor, und seine berühmten Vorträge - oder Versuchsvorlesungen - waren anregend und glänzend formuliert, ja, oft genug literarisch brillant. Sie reichten von winzigen Details seiner Experimente bis hin zu Spekulationen über das Universum und das Leben, unnachahmlich in Stil und Sprache. [24] Bald wurde er einer der berühmtesten und einflussreichsten lecturer Englands. Wenn er sprach, versammelten sich große Menschenmengen vor den Sälen und versperrten die Straßen. Sogar Coleridge, der größte Redner seiner Zeit, kam zu Davys Vorlesungen, nicht nur, um seine chemischen Notizbücher zu ergänzen, sondern auch, «um meinen Metaphernvorrat aufzufüllen».
Anfang des 19. Jahrhunderts bildeten die literarische und die wissenschaftliche Kultur noch eine Einheit - die Wissenschaft hatte sich vom Gefühlsleben noch nicht distanziert, das kam erst später. Während seiner Zeit in Bristol war Davy eng mit Coleridge und den romantischen Dichtern befreundet. Damals schrieb Davy selbst viel Lyrik (und veröffentlichte sie gelegentlich auch). In seinen Notizbüchern bilden Einzelheiten zu den chemischen Experimenten, Gedichte und
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