Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
Blitzlichtbirnen, die mit glänzenden, krausen und leicht entzündlichen Metallfolien voll gestopft waren (meist Magnesium oder Aluminium, gelegentlich auch Zirkonium). Es war wohl auch die Optik, das winzige, flache Bild der Welt im geschliffenen Glas, das Vergnügen, das es bereitete, mit den verschiedenen Blenden, den verschiedenen Linsen zu arbeiten und die richtige Einstellung zu finden, und dann die interessanten Emulsionen, die man verwenden konnte - es waren in erster Linie die fotografischen Prozesse, die mich faszinierten.
    Aber es war natürlich auch das Gefühl, einer sehr persönlichen und vielleicht flüchtigen Wahrnehmung Objektivität und Dauer zu verleihen, vor allem da mir die Fähigkeit zu zeichnen oder zu malen abging. Diese Leidenschaft wurde noch vor dem Krieg durch die Fotoalben der Familie geweckt, vor allem diejenigen, die die Zeit vor meiner Geburt dokumentierten, das Strandleben und die Badewagen der zwanziger Jahre, die Straßenbilder aus dem London der Jahrhundertwende, die steif posierenden Großeltern, Großtanten und Großonkel der siebziger Jahre. Ferner gab es einige besonders kostbare Stücke, Daguerreotypien in Spezialrahmen, die aus den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts stammten. Ihre Detailgenauigkeit und Oberflächenbeschaffenheit schien feiner und glänzender zu sein als die der späteren Papierbilder. Eine Daguerreotypie schätzte meine Mutter ganz besonders, eine Fotografie der Mutter ihrer Mutter, Judith Weiskopf, 1853 in Leipzig aufgenommen.
    Dann gab es noch die ganze weite Welt außerhalb der Familie, die gedruckten Fotos in Büchern und Zeitungen, von denen einige einen sehr lebhaften Eindruck auf mich machten, etwa die aufregenden Fotos vom Brand des Kristallpalastes (sie bestätigten - oder prägten? - meine frühen Erinnerungen daran) und Fotos von majestätisch schwebenden Luftschiffen (ein anderes von einem Zeppelin, der lichterloh brennend abstürzt). Ich war begeistert von den Fotografien ferner Menschen und Orte, vor allem von den Abbildungen in der Zeitschrift National Geographic , die mit ihrem gelb gerandeten Titelblatt jeden Monat ins Haus kam. Dazu hatte National Geographic Farbaufnahmen, die mich besonders fesselten. Ich hatte schon handkolorierte Fotos gesehen -Tante Birdie verstand sich ausgezeichnet auf diese Kunst -, doch echte Farbfotos kannte ich bis dahin überhaupt nicht. In seiner Erzählung «Die seltsame Geschichte von Brownlows Zeitung», die ich etwa zu dieser Zeit las, beschreibt H. G. Wells, wie Brownlow eines Tages statt der erwarteten Zeitung aus dem Jahr 1931 eine Zeitung von 1971 kriegt.
    Das Erste, was Mr. Brownlows Aufmerksamkeit erregt und ihm das Unglaubliche, das ihm da widerfahrt, zu Bewusstsein bringt, sind die Farbfotos in dieser Zeitung - für jemanden, der in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts lebte, vollkommen unbegreiflich:
    In seinem ganzen Leben hatte er noch nie einen solchen Farbdruck gesehen - und die Häuser, die Landschaften und die Mode auf den Bildern waren seltsam. Seltsam und doch glaubwürdig. Es waren Farbfotos von aktuellen Ereignissen, aber erst von vierzig Jahren später.
    Manchmal waren meine Empfindungen angesichts der Farbbilder im National Geographic ganz ähnlich, auch sie schienen eine glanzvolle, bunte Welt der Zukunft zu zeigen, weit entfernt von der Einfarbigkeit der Vergangenheit.
    Stärker fühlte ich mich jedoch von den alten Fotos angezogen mit ihren schummrigen, zarten Sepiatönen - sie gab es zuhauf in den Familienalben und Zeitschriften, die ich in der Rumpelkammer fand. 1945 war ich mir der Veränderungen schon sehr bewusst, der Tatsache, dass das Vorkriegsleben unwiderruflich und für immer vergangen war. Aber es gab noch die Fotos, Fotos, die häufig ganz beiläufig entstanden waren und jetzt einen ganz besonderen Wert besaßen, Fotos aus den Sommerurlauben vor dem Krieg, Fotos von Freunden, Nachbarn und Verwandten, aufgenommen in der strahlenden Sonne des Jahres 1935 oder 1938, ohne einen Schatten oder eine Vorahnung dessen, was da kommen sollte. Für mich war es ein Wunder, dass Fotografien Augenblicke der Wirklichkeit, gewissermaßen exakte Querschnitte der Zeit, einfangen und für immer auf Silber bannen konnten.
    Ich sehnte mich danach, selber solche Fotos zu machen, Landschaften, Dinge, Menschen, Orte, Augenblicke zu dokumentieren und aufzuzeichnen, bevor sie sich veränderten oder verschwanden, geschluckt von den Wandlungen der Erinnerung und der Zeit. Eine solche Aufnahme

Weitere Kostenlose Bücher