Onkel Wolfram - Erinnerungen
philosophische Gedanken eine bunte Mischung, offenbar existierten sie nicht getrennt in verschiedenen Schubladen seines Denkens. [25]
In diesen frühen, glorreichen Tagen der industriellen Revolution gab es ein außerordentliches Interesse an den Naturwissenschaften, besonders an der Chemie. Sie schien eine neue, leistungsfähige (und durchaus nicht rücksichtslose) Methode zu sein, nicht nur die Welt zu verstehen, sondern auch ihren Zustand zu verbessern. Und Davy selbst schien diesen neuen Optimismus zu verkörpern, zur Speerspitze dieser gewaltigen wissenschaftlichen und technischen Entwicklung zu gehören einer Entwicklung, die versprach (oder drohte), die Welt zu verändern. Davy hatte ein halbes Dutzend neue Elemente entdeckt, neue Beleuchtungstechniken vorgeschlagen, wichtige Neuerungen in der Landwirtschaft geschaffen und eine elektrische Theorie der chemischen Bindung, der Materie und des Universums entwickelt - und das alles, bevor er dreißig Jahre alt war.
1812 wurde Davy, der Sohn eines Holzschnitzers, für seine Verdienste um das Vaterland in den Adelsstand erhoben - der erste Wissenschaftler seit Isaac Newton, dem diese Ehrung zuteil wurde. Im selben Jahr heiratete er, was ihn jedoch offenbar nicht im Mindesten von seiner chemischen Forschung ablenken konnte. Als sich das junge Paar zu einer längeren Hochzeitsreise auf den Kontinent begab, setzte er entschlossen seine Experimente fort. Er traf, wo er auch war, andere Chemiker und führte eine Vielzahl chemischer Gerätschaften und Stoffe mit sich («eine Luftpumpe, eine Elektrisiermaschine, eine Volta'sche Säule… ein Lötgerät, Blasebalg und Schmiedeofen, eine mit Quecksilber und Wasser arbeitende Gasapparatur, Becher und Schalen aus Platin und Glas sowie die gebräuchlichsten Reagenzien der Chemie») - und außerdem seinen jungen Forschungsassistenten Michael Faraday. (Faraday, der damals Anfang zwanzig war, hatte Davys Vorträgen fasziniert gelauscht und dessen Gunst dadurch gewonnen, dass er ihm eine brillant transkribierte und mit Anmerkungen versehene Version dieser Vorträge überreichte.)
In Paris bekam Davy Besuch von Ampere und Gay-Lussac, die einen glänzenden schwarzen Stoff mitbrachten. Sie hatten ihn aus Seetang gewonnen und wollten seine Meinung darüber hören. Die Substanz hatte die bemerkenswerte Eigenschaft, nicht zu schmelzen, wenn sie erwärmt wurde, sondern sich sogleich in einen Dampf von tiefvioletter Färbung zu verwandeln. Ein Jahr zuvor hatte Davy Scheeles grüngelbe «Salzsäureluft» als das neue Element Chlor identifiziert. Mit seinem ausgeprägten Gespür für die Wirklichkeit [26] und seiner genialen Begabung für Analogien merkte Davy sofort, dass diese stark riechende, flüchtige und hochreaktive feste Substanz von schwarzer Farbe ein Analogstoff des Chlors war, was er auch bald experimentell belegen konnte. Er hatte bereits - ohne Erfolg - versucht, Lavoisiers «Fluorradikal» zu isolieren, und dabei erkannt, dass das Element, das es enthielt, Fluor, leichter und noch aktiver sein müsse als Chlor. Doch er war auch der Auffassung, dass die relativ große Lücke, die zwischen den physikalischen und chemischen Eigenschaften von Chlor und Jod klaffte, für die Existenz eines noch unentdeckten Zwischenelements spreche. (Ein solches Element gab es in der Tat - es war das Brom -, doch nicht Davy war es vergönnt, es zu entdecken, sondern dem jungen französischen Chemiker Baiard, dem dies 1826 gelang. Wie sich herausstellte, hatte Liebig schon vorher die rauchende braune Flüssigkeit isoliert, sie aber irrtümlicherweise für «flüssiges Jodchlorid gehalten. Nachdem Liebig von Balards Entdeckung gehört hatte, stellte er die Flasche in seinen «Fehlerschrank».)
Von Frankreich begaben sich die Hochzeitsreisenden in Etappen weiter nach Italien, wobei ihr Weg von Experimenten gesäumt wurde: Man sammelte Kristalle vom Kraterrand des Vesuvs, analysierte das Gas aus natürlichen Spalten in den Bergen (es handelte sich, wie Davy feststellte, um Sumpfgas oder Methan) und nahm zum ersten Mal eine chemische Analyse von Farbproben alter Gemälde vor («bloß Atome», verkündete er).
In Florenz führte er ein kontrolliertes Experiment durch, bei dem er einen Diamanten mit einem riesigen Vergrößerungsglas verbrannte. Obwohl Lavoisier die Brennbarkeit des Diamanten bereits unter Beweis gestellt hatte, mochte Davy bis zu diesem Zeitpunkt nicht recht daran glauben, dass Diamant und Holzkohle tatsächlich ein und dasselbe
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